Ein solches Vermögen der Literatur, Skandale zu produzieren, wird in der Postmoderne nunmehr in Frage gestellt. Airaksinen17 und auch Ladenthin gehen soweit zu behaupten, dass der Literaturskandal theoretisch tot sei:
Die Postmoderne war der Grabstein beim Tod des Skandals. Sie erklärte die repressive Toleranz nicht zum Faktum […] sondern zum Gebot. Die Verweigerung von jeglichem Normativen nahm der Literatur den Gegenstand. Denn wenn kein Weltbild Geltung hat, ist auch keines mehr zu zerbrechen. Wenn jede Moral kulturell relativ ist, kann man keine mehr der Unsittlichkeit überführen.18
Im »Zeitalter der Nicht-mehr-schönen-Künste« sei ein Skandal aufgrund von Normenpluralität, dem Toleranzimperativ und Quasi-Totalabstumpfung gar nicht mehr möglich. Doch die Praxis widerlegt dies augenscheinlich. So räumt er ein: »Allerdings ist die Postmoderne eben nur ein begrenztes Konstrukt. Global sind die kulturellen Konstrukte nicht so plural, wie Relativitätstheoretiker es behaupten«.19 In der Tat scheint es fast so, als hätten sich Skandale gerade in den letzten Jahren nahezu multipliziert, nicht zuletzt durch Sensationsberichterstattung und bewusst provokantes Marketing.20 Aus dem literarischen Bereich seien dabei nur ein paar Namen genannt: Thomas Bernhard, Martin Walser, Bret Easton Ellis, Catherine Millet, Christine Angot, Charlotte Roche und natürlich Michel Houellebecq. Hiergeist löst das Paradoxon von Gesellschaften, die trotz vermeintlicher (Werte-)Liberalität besonders viele Skandale produzieren, indem sie den (Literatur-)Skandal als anachronistisches Kollektivritual identifiziert, das trotz historisch wandelbarer Grundbedingungen gemeinschaftsstiftende Funktionen übernimmt. In einem Vergleich von Flauberts Madame Bovary und Catherine Millets L’Histoire sexuelle des Catherine M. (2001) arbeitet sie folgende Invarianten heraus:
1. Der Skandaldiskurs zielt auf die Verwischung der Grenzen zwischen Realität und Fiktion ab. 2. Ihm wohnt mit seiner Anlehnung an die Sündenbockstruktur eine starke symbolische Aufladung inne. 3. Er perpetuiert längst überholte Werte einer vormodernen Gesellschaftsstufe, ohne dass die Akteure hierin eine Zeitwidrigkeit erkennen würden. 4. Er ist durch einen hohen Grad an Emotionalität gekennzeichnet.21
Und während im 19. Jahrhundert dieser Ritus noch der Behauptung der Autonomie des Literaturbetriebs diente, setzt sich dieser Kampf in der Postmoderne symbolisch fort, obgleich er de facto obsolet erscheint. Wie der bereits erwähnte Fall Rushdie bereits zeigte, kann dabei das Rollenspiel neu besetzt werden: Der vormals Skandalierte wird zur Galionsfigur eines Freiheitskampfes erkoren, steht nunmehr für den Erhalt eines mühsam erkämpften Rechts.22 Ob die Bedrohung der Kunstautonomie in einem solchen Fall real ist oder nicht, das Skandalritual mache vielmehr einen Raum der Freiheit verfügbar, der sich von der Banalität des Alltags absetze:
Indem Mitglieder einer Gemeinschaft die Autonomie des literarischen Feldes zelebrieren, inszenieren sie dieses als heiligen Raum der Evasion und Transgression, der sich von der profanen Alltagsordnung distinktiv abhebt. So gesehen übernimmt der Skandal die Funktion der Sakralisierung des Literaturbetriebs, wobei der Autor die Rolle des Propheten, seine Verteidiger die der Priester, seine Gegner die der Häretiker einnehmen.23
Hier lässt sich dann auch unschwer eine Parallele zu Bataille und seiner Konzeption der Literatur als Raum der Transgression erkennen. Die Literatur (und Kunst im Allgemeinen) behaupte sich damit kontinuierlich als Alternativraum, der sich nicht den Regeln des sozialen Gefüges des realen Lesers bzw. Rezipienten unterzuordnen habe.
Dieser Ansatz, der den postmodernen Literaturskandal als anthropologische Konstante und gemeinschaftsstiftendes Ritual zu definieren sucht, scheint mir äußerst lohnend, aber nicht erschöpfend. Denn – um noch einmal auf Friedrichs Einschränkung zurückzukommen – wir mögen uns zwar in einem Zeitalter befinden, in dem vermeintlich »anything goes«, doch gibt es dennoch Themen, die berühren und provozieren, und Literatur, die aufrütteln und anecken will. Auch wenn der Rezipient natürlich die Bereitschaft aufbringen muss, sich durch die Kunst erregen zu lassen (oder eben nicht, da wären wir bei den von Hiergeist betitelten »Atheisten des Skandals«, also jene, die »sich selbst in eine Metaposition […] katapultieren«, um »ihre eigene Unabhängigkeit von gesellschaftlichen Modellen zu demonstrieren«24), reagiert er dennoch äußerst selten rein leidenschaftslos und ästhetisch. Auch der professionalisierte Leser, der dem Text eine kritische Distanz entgegenbringt, wird kaum völlig unbewegt den Gewaltimaginationen eines Bret Easton Ellis’ folgen können. Literaturskandale folgen nicht nur dem mehr oder weniger unbewussten Bedürfnis, die Literatur bzw. Kunst als sakralen Raum der Überschreitung zu markieren, sondern verweisen punktuell gleichermaßen auch auf prekäre Themen, die gegebenenfalls nicht allein kunstspezifisch, d.h. von poetischer Natur sind, sondern dem sozialen, politischen, religiösen etc. Bereich entstammen. Sofern es sich nicht ausschließlich um einen Skandal um die Autorenperson selbst handelt (z.B. heikle Aussagen in einem Interview), können wir bei einem skandalträchtigen Text also durchaus fragen: Warum erregt er die Gemüter und was genau stellt das Skandalon dar?
1.4.3 Überlegungen zu einer Poetik des Skandals oder: die Performativität des Skandals
Wie bereits erläutert wurde, ist dem Skandal eine gewisse Theatralität zu eigen; er ist ein Kommunikationsprozess, bei dem stets die gleichen Rollen verteilt bzw. Funktionen erfüllt werden. Es handelt sich dabei im Zusammenhang mit Literatur nicht nur um einen hilfreichen Begriff, weil er ein Modell für einen gesellschaftlichen Prozess bezeichnet, sondern auch, weil er gleichermaßen Funktionen und Formen der literarischen Kommunikation transparent macht. Der Autor ist Erzeuger einer literarischen Botschaft, welche (aus diversen denkbaren Gründen) von einem Empfänger, d.h. Rezipienten bzw. Leser als anstößig empfunden wird. Der Text ist ihm ein Skandalon und diese Empörung wird vor und von einer größeren Rezipientenschaft geteilt. Als Folge dieses öffentlichen Skandaldiskurses steht einerseits die endgültige Abstrafung des Werkes und des Autors (im 19. Jahrhundert war die ›Höchststrafe‹ wohl Zensur und Verbot, d.h. ein Titel konnte komplett vom Buchmarkt verbannt werden; heute ist dies in westlichen Kulturen kaum denkbar, jedoch kann ein Werk durchaus noch als »nicht-literarisch« bzw. gar »Schund« abqualifiziert werden) oder aber die symbolische Beförderung des Autors zur Galionsfigur der künstlerischen Autonomie oder auch zum »Warner und Mahner«, der Missstände in den öffentlichen Diskurs bringt.1 Zwar kann ein solcher Literaturskandal mehr oder weniger zufällig entstehen, so eben z.B. der Fall Madame Bovary, dessen Ausmaße sicher nur annähernd erahnt werden konnten. Doch sollte der Aspekt der Intentionalität durchaus nicht vernachlässigt werden. Natürlich kann ein literarisches Werk bewusst kontrovers gestaltet werden; der Autor kann es sich zum Ziel setzen, auf möglichst effektvolle Weise problematische, heikle Themen zu thematisieren. Und hierin schlummert auch das kreative Potential des Skandals: »In der Provokation von Aufregung, der öffentlichen Infragestellung gesellschaftlicher Ordnungsmuster, dem Überraschen mit neuen ästhetischen Ansätzen und der Anregung von Diskursen können wesentliche Ansprüche moderner Künstler gesehen werden«,2 die natürlich auch der Selbstinszenierung und Aufmerksamkeitssteigerung dienen. Die intentionale Provokation ist ein performativer Gestus, der auf der Schaubühne des Medienskandals inszeniert wird.3 Andererseits wird damit potentiell ein Austausch über Werte und Normen incentiviert, der einer Wertetransformation bzw. –aktualisierung zugute kommen kann. Eine Poetik des Skandals umfasst also einerseits die Ebene der (Rezeptions-)Ästhetik und diesbezüglich die wirkungsästhetisch effektvollen Kunstmittel