Bild und Text trugen somit gleichermaßen zu einer für die frühneuzeitliche Naturkunde bezeichnenden Ambivalenz bei: Einerseits tradierte die Rezeption der antiken Schriften auf Mythen und Legenden beruhende Informationen auch dann, wenn diese durch die eigene Anschauung falsifiziert waren, andererseits war auch die empirische Erfassung, mit der überkommene Annahmen kritisiert werden sollten, kaum gegen Fehldeutungen gefeit, da gerade im Falle exotischer Fauna oft nur einzelne Exemplare untersucht und keine überindividuellen Merkmale festgestellt werden konnten. Im Folgenden soll an einer Motivgeschichte des Krokodils vom 15. bis ins 18. Jahrhundert dargelegt werden, wie sich bestimmte Stereotype in der Darstellung der Tiere etablierten und tradiert wurden, und damit die frühneuzeitliche Ikonographie des Krokodils umrissen werden. Die These lautet, dass die Übernahme bestimmter Formeln aus dem Bereich der Hochkunst die naturhistorischen Illustrationen selbst dann noch stilisierte, wenn die Augenzeugenschaft der Autoren die entsprechenden Eindrücke bereits falsifizieren konnte.
2. Krokodile in der mittelalterlichen Naturdeutung
Den Ausgangspunkt dieser Überlegungen bildet ein Blatt aus der Peregrinatio in Sanctam Terram, Bernhards von Breydenbach 1486 publiziertem Reisebericht über seine Pilgerfahrt nach Jerusalem. Der Holzschnitt zeigt in streumusterhafter Anordnung acht Tiere, die Bernhard und seine Gefährten auf ihrer Route über Ägypten gesehen haben wollen, darunter eine Giraffe und ein Einhorn sowie rechts oben ein Krokodil. Alle sind durch Inschriften bezeichnet, so auch das Krokodil als „Cocodrillus“.1 Eine schwarze Linie rahmt das Bild, unter ihr versichert Bernhard die Betrachter der Wahrhaftigkeit der Darstellung: „Hec animalia sunt veraciter depicta sicut vidimus in terra sacra.“2
Schon die Darstellung des Krokodils lässt daran jedoch Zweifel aufkommen: Furchtbar gewunden erscheint das echsenähnliche Wesen mit dem langen, nach oben gereckten Hals, den übermäßig langen Gliedmaßen mit gekrümmten Krallen und besonders dem in Form einer 8 zweifach gerollten Schwanz.
Das Bild ist einer von sechsundzwanzig Holzschnitten, die der niederländische Künstler Erhard Reuwich, der Bernhard auf der Reise begleitet hatte, für die Peregrinatio angefertigt hat. Dass Bernhard und Reuwich nicht alle der dargestellten Tiere mit eigenen Augen gesehen haben können, versteht sich schon in Anbetracht des Einhorns. Die Beobachtung von Krokodilen erwähnt der Text hingegen bei der Schilderung einer Nilfahrt. Reuwich dürfte jedoch keine Gelegenheit gehabt haben, die Tiere detailliert zu studieren; eher scheint er sich bei der Darstellung an Vorlagen aus mittelalterlichen Bestiarien und Enzyklopädien orientiert zu haben.3 Frederike Timm zufolge muss Reuwichs Augenzeugenschaft an der Vorprägung dieser Bild- und Texttradition relativiert werden.4
Im Gegensatz zu anderen von antiken Autoren beschriebenen Exoten wie Nashörnern, Nilpferden oder Haien war die Kenntnis von Krokodilen während des Mittelalters nämlich nicht verblasst. Bartholomäus Anglicus erwähnt Krokodile in De proprietatibus rerum ebenso wie Vinzenz von Beauvais im Speculum maius.5 Noch älter ist die Beschreibung von Krododilen im Liber Monstrorum, einer frühmittelalterlichen Abhandlung über die drei Arten von Monstren und Ungeheuern, die dem anonymen Verfasser am Schrecklichsten erscheinen, nämlich Wundermenschen, gefährliche Tiere sowie Drachen und Schlangen. Der mittlere Themenblock enthält einen Eintrag über Krokodile, demzufolge die am Nil heimischen Tiere sowohl am Ufer als auch im Wasser lebten, überwiegend dösten, aber vom Geruch von Menschenfleisch erregt werden könnten, auf das sie gierig seien.6 Als deskriptive Auflistung bildet der Liber Monstrorum eine Ausnahme in der mittelalterlichen Tradition der Naturbetrachtung, die hauptsächlich von dem Bestreben geleitet war, in Naturphänomenen Gleichnisse geistlich-moralischer Maximen zu erkennen. Ihre berühmteste Ausformung ist bekanntlich der Physiologus, eine seit der Spätantike nachweisbare Sammlung von Tierbeschreibungen, die jeweils als Beispiele christlichen Verhaltens ausgelegt werden. Bis ins 13. Jahrhundert überliefert, beinhalten einige Physiologus-Handschriften auch Kapitel über Krokodile. Sie beschreiben das Krokodil als menschenfressendes Mischwesen aus Schlange und Löwe, das seine Opfer beim Verschlingen betrauert. Damit ist auf das Phänomen der sogenannten Krokodilstränen angespielt, denn tatsächlich sondern verschiedene Arten von Krokodilen während des Fressens ein Tränensekret ab; der Physiologus deutet dies als Heuchelei und vergleicht das Krokodil mit Mächtigen und Raffgierigen, die am Tag des Jüngsten Gerichts vor Gott ihre eigenen Missetaten beweinen, dann aber keine Gnade mehr finden, sondern zur Hölle fahren.7 Diese Deutung übernahm noch Konrad von Megenberg in seinem 1348 bis 1350 entstandenen Buch der Natur, das als erste Naturkunde in deutscher Sprache zu den einflussreichsten Lehrbüchern des Mittelalters zählt.
Neben dieser moralisierenden Auslegung von Texten gab es im Mittelalter, wie Johannes Tripps aufzeigte, auch bildhafte Arrangements von Krokodilen. Krokodilhäute wurden aus Ägypten nach Europa exportiert, wo sie als Zeichen der Allmacht Gottes ins Bildprogramm gotischer Kirchenbauten integriert werden konnten; dies entspricht einer gängigen Gleichung von Krokodilen mit dem biblischen Leviathan (Hiob 40, 25–32). Krokodile konnten aber auch als Drachen gelten; ihre Häute wurden besonders dort in Kirchen aufgehängt, wo ein Drachenkampf zu den regionalen Heiligenlegenden gehörte. Bis heute erhalten blieb ein Präparat in der Kirche Santa Maria delle Grazie in Mantua, das dort um 1500 befestigt wurde. In Metz, wo der Hl. Klemens das Oberhaupt einer Drachenbrut gebannt haben soll und sich die Einwohner im Gegenzug zum christlichen Glauben bekannten, wurde das aus Teilen einer Krokodilhaut angefertigte Modell des Drachen nicht nur in der Kirche aufbewahrt, sondern auch bei Prozessionen getragen.8 Der Drachenkampf bzw. -bann ist ein Topos mittelalterlicher Heiligenlegenden und verweist meist auf den Sieg des Christentums über das Heidentum.
Als Erhard Reuwich also ein krallenbewehrtes Ungetüm in Holz schnitt und als Krokodil bezeichnete, mögen ihn zwei Traditionen geleitet haben: Die moralisierende Deutung älterer Texte in der Tradition des Physiologus, zu der keine eigene Kenntnis der Tiere nötig war und in der das Krokodil zum Sinnbild schlechten Verhaltens geraten war, und die bildhafte Ausstellung manipulierter Krokodilpräparate, die den Leviathan, aber auch Drachen und den Satan selbst porträtieren konnten. Ob Bernhard von Breydenbach und seinem begleitenden Künstler überhaupt daran gelegen war, die vielleicht am Nil beobachteten Tiere zu dokumentieren, oder ob sie in der Erwähnung des allegorisch stark aufgeladenen Geschöpfs womöglich negative Reiseerlebnisse kompensieren wollten, sei dahingestellt. Reuwichs Holzschnitt beinhaltet jedenfalls die früheste druckgraphische Darstellung eines Krokodils in Europa und zählt damit zu den bedeutendsten Tierdarstellungen der Inkunabelzeit.
3. Chroniken und Flugblätter
Die Vorbildfunktion von Reuwichs Bildern wird etwa daran augenfällig, dass sein Krokodil noch in einer frühen deutschen Ausgabe von Sebastian Münsters Cosmographia, erschienen 1546 in Basel, als Illustration eines Abschnitts über Ägypten diente.1 Diese folgte auf die zwei Jahre zuvor erschienene lateinische Erstausgabe, die bekanntlich zu den enzyklopädischen Hauptwerken der Renaissance zählt. Sie führt die von Hartman Schedel modernisierte Tradition der Weltchronik fort und beinhaltet einen auf sechs Bücher verteilten chronologisch-geographischen Überblick der Weltgeschichte vom biblischen Schöpfungsbericht bis zur Gegenwart. Der Schwerpunkt liegt dabei auf Zentraleuropa; nur die beiden letzten Bücher behandeln Asien, Afrika und Amerika.
Tiere spielen in Münsters geographisch orientiertem Werk eine untergeordnete, in ihrer teils sensationellen Charakterisierung jedoch nicht zu unterschätzende Rolle. Im Bereich der vertrauten Länder Mitteleuropas gilt das Interesse an Tieren vornehmlich dem Nutzwert. Je weiter der Text jedoch von seinem Entstehungsort fortführt, desto mehr Betonung liegt auf dem Befremdlichen und Sensationellen der Fauna. Im Niemandsland jenseits der Überprüfbarkeit orientierte sich Münster an den Überlieferungen der antiken Literatur. Die Bücher über Asien und Afrika geben hinsichtlich der Fauna meist Plinius und Strabo wieder; die Mitteilungen über Amerika beschränken sich auf Auszüge aus den Briefen Amerigo Vespuccis.2
Dass Reuwichs kleines Scheusal in frühen Ausgaben der Cosmographia zu sehen ist, ist erstaunlich, hatte Münster doch mit Rudolf Manuel Deutsch einen namhaften Künstler für die Illustrationen seines Buchs engagiert, der für die Erstausgabe auch ein Krokodilbild angefertigt hat. Deutschs Bild dürfte die erste naturnahe Darstellung eines Krokodils in der Druckgraphik sein. Das