Dabei gehen der Autor und die Erzähler in ihren Verfahrensweisen mit der Stadt ebenso vor wie mit ihren Figuren und wenden eine Technik disseminierender Verundeutlichung und Dekomposition an, indem konkrete Merkmale bald ausgelassen, bald Details antagonistisch gegenübergestellt werden. Auch damit ist der Leser vertraut, dass nämlich ausführliche Beschreibungen von Figuren als Personen ausgelassen werden, dass keine inneren Entwicklungen von Charakteren geschildert werden und, im Falle von Santa María, auch keine raum- oder stadtsoziologisch dingfeste Beschreibung einer Architektur, einer soziographischen Statistik der Bevölkerung oder einer klimatischen Atmosphäre festzuhalten sind. So ist auch Santa María zunächst ein fiktiver und aufgrund dessen ein ungenau auserzählter Ort, dessen Beschaffenheit, wenn überhaupt, im komparatistischen Vergleich fiktionalisierter Schauplätze zu anschaulichen Ergebnissen führt.4
II.
Der fiktive Onetti'sche Ort Santa María ist, monographisch gelesen, von einer widersprüchlichen, ungereimten geographischen, klimatischen und topographischen Lage. Im Verlauf des Werkes wird er als Kleinstadt beschrieben und erkennbar, dann aber auch als Metropole, bald ist Santa María eine Stadt an einem Strand oder liegt schließlich wieder im Binnenland. In La vida breve ist Santa María am Fluss gelegen, "[e]l médico vive en Santa María, junto al río." (VB I, cap. II, 429, eig. Hervorh)1. In "La novia robada" ist Santa María die enge Heimat der Protagonistin Moncha, Dorf und Kirche in einem, in die sich "La Moncha Insurralde o Insaurralde" (NRo, 181) einsperrt.2 Santa María stellt hier eine Rekonstruktion des Bücherzimmers von Don Quijote dar, in dem er eine kleine Bibliothek des Siglo de Oro sammelt. Nach seinem ersten Ausritt und gescheiterten Abenteuer wird das Zimmer von Dorfbewohnern vermauert.3 In diesem, einem unzugänglichen literarischen Gedächtnis erinnernden Santa María wird Moncha geboren und stirbt auch dort. Auch sie machte eine Reise, nach Europa, um das Abenteuer des Heiratens zu erleben, das scheiterte und dazu führte, dass die Protagonistin im traditionellen, in der Institution der Ehe verlangten Übergang von einem Mädchen zu einer Frau, in der Verlobung hängen bleiben, und dort zu sterben, um in ihrem Leben alleine in der Phantasie einer Reise nach Europa eine Ausflucht erlebt zu haben. Santa María ist kaum ein topographisch fassbarer Ort, da er aus der Beziehung, aus der Nähe oder aus der Ferne zu anderen Orten beschrieben wird. Santa María ist von Buenos Aires mit dem Zug erreichbar, dagegen liegt er unerreichbar zu "Esbjerg, en la costa" (1946), dann ist die Strecke ein anderes Mal wieder auf einem Fußweg von der "colonia suiza" (VB I, cap. II, 429) aus zu bewältigen: "[e]n los bordes de Santa María está La Colonia, probablemente de suizos"4. Santa María ist als Ort schließlich kaum zu fassen, auch nicht als Utopie markierbar5. Die Semantik der Namensgebung spielt dafür eine eminente Rolle, die sich einfügt in den symbolischen und intertextuellen Charakter vieler Eigennamen, die Onetti seinen Figuren und Schauplätzen gegeben hatte, ob Díaz Grey, Gertrudis und Julio Stein oder Moncha.
Je mehr Bruchstücke, Nachrichten und Eigenschaften über Santa María der Leser in einer Collage seiner Lektüren zusammenzusetzen vermag, desto undeutlicher wird die Gesamtgestalt eines Ortes. Vielmehr gerät Santa María zur Bezeichnung einer Ortlosigkeit und transición, die sich nicht in Terminologien des Raumes fassen lässt, da sie mehr auf solche der Bewegung, der Heterotopie und der Deterritorialisierung angewiesen ist.6
III.
Die Santa María als eines der drei Schiffe der Flotte der Seefahrer, die mit Cristóbal Colón, Vicente und Martín Alonso Pinzón zur Entdeckung einer Route nach Ostasien im Sommer 1492 aufgebrochen waren, ist kulturgeschichtlich in Vergessenheit geraten und überdeckt worden von der Beständigkeit der unübersichtlichen Vielzahl lateinamerikanischer Ortschaften, die als Allerweltsstädte aus dem kolonialistischen Gründerwahn hervorgegangen waren. Juan Carlos Onetti erinnert mit seinem Santa María an diese historische Überfahrt über das Meer und an das Schiff, auf dem die Diarios de a borde1 geschrieben wurden, in welchen Kolumbus den reyes católicos Bericht erstattete über die täglich neue Ungewissheit seiner Reise, ganz ohne die notwendige Täuschung seiner Mannschaft über eine bald planlose Navigation und seine Ahnungslosigkeit, ein Ziel zu erreichen, zu verheimlichen. Ganz wie die Täuschung seiner Leser dem Autor und Erzähler Onetti und seinem in der Fiktion eingesetzten Akronym "J.C.O." (NRo, 181) ein Vergnügen scheint, entspricht die Zerstörung des fiktiven Santa María in der Feuersbrunst in Déjemos hablar al viento (1979) dem historischen Schicksal der Santa María, die als Karavelle zwar akribisch festgehalten, gleichwohl allein in graphischen Rekonstruktionen auf der Grundlage von historischen Dokumenten überliefert ist.2
Dass die cuentos Onettis sich auch aus einer ausschließlich nostalgischen Perspektive auf die Seefahrten dieser legendären Flotte erschließen lassen – aus der imaginierten Erinnerung an einen vermeintlich letzten präkolonialen Moment – kann durch eine Lektüre von La muerte y la niña (1973) unterstützt werden. Gibt der Leser der titelgebenden niña eine Majuskel, so wird auch dieses, bald vom Ehepaar Goerdel und Hauser ungewollte, bald an die vermeintliche Tochter von Díaz Grey erinnernde Mädchen, als Name und Teil der Flotte einer Seereise, an der keine Frauen beteiligt waren, ins Gedächtnis gerufen.
In dem Versuch, Orte und Geographien zu entfestigen, diese mit Figuren zu verkoppeln – das niña-Mädchen in das Niña-Schiff zurück zu verwandeln und Santa María neu auf das Meer zu verlagern – und loci universal miteinander zu verbinden, um ihnen eine Dynamik zu verschaffen, beruht die singuläre Originalität der Texte von Onetti, auch wenn es in der Literatur Werke gibt, die eine vergleichbare Motivik darstellen. Eine ähnliche Auflösung gewohnter, topographisch bestimmbarer Festsetzungen von Orten – einhergehend mit der Beschreibung von Exilen, Migrationen und der schwer erreichbaren Möglichkeit von Sesshaftigkeit zeigte der Roman von Anna Seghers, einer zeitgenössischen Autorin von Juan Carlos Onetti. Auch in ihrem in den 1940er Jahren verfassten Roman Transit wird der Schauplatz der Handlung, Marseille, an dem die notwendige Flucht aus Deutschland und Frankreich zunächst stockt, um über das Meer nach Lateinamerika zu gelangen, bereits auf dem Landweg als unbefestigt flottierendes Territorium beschrieben. Die in Marseille täglich zahlreicher eintreffenden Emigranten, die in Transit zusammenkommen und sich von diesem äußersten Randstück Europas ohne gültige Papiere erst einmal nicht weiterbewegen können, insbesondere die Ich-Erzählerin, erfahren die Stadt bereits als das Meer, auf dem man sich bewegt und einer Orientierungslosigkeit ausgesetzt ist. Ihre Wahrnehmung und die Ortlosigkeit der Protagonisten geht auf die Topographie über.
Ich hatte selbst beim Einschlafen die Empfindung, auf einem Schiff zu sein, nicht, weil ich soviel von Schiffen gehört hatte oder eins benutzen wollte,