Friedemann Spicker
Beziehungsweisen
Elazar Benyoetz: Ein Porträt aus Briefen
Narr Francke Attempto Verlag Tübingen
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ISBN 978-3-7720-8699-1 (Print)
ISBN 978-3-7720-0109-3 (ePub)
Zur Einführung
Briefe müssen nicht im Zusammenhang stehen, aber eine Beziehung glaubwürdig widerspiegeln und für den Schreibenden sprechen.
EB an Monika Fey, MonikaFey, 24. Januar 2006
Der Aphorismus ist das Stiefkind der Literaturwissenschaft und der Literaturgeschichte, ungeachtet seiner großen Autoren von Karl Kraus, KarlKraus bis Elias Canetti, EliasCanetti, um nur vom letzten Jahrhundert zu sprechen. Wer allein die neueren Bände des „de Boor/Newald“, der repräsentativen, in zehn Bänden vorliegenden deutschen Literaturgeschichte, den von Wilfried Barner, WilfriedBarner herausgegebenen Band für die Zeit von 1945 bis zur Gegenwart (1994) und den von Helmuth Kiesel, HelmuthKiesel verfassten zur deutschsprachigen Literatur 1918–1933 (2017), daraufhin durchsieht, wird dieser Aussage unmittelbar zustimmen müssen. Der Aphorismus kommt dort (so gut wie) nicht vor.
Stiefkind: Das gilt umso mehr für die mystisch-religiöse Aphoristik, für die im 20. Jahrhundert (in einer breit gefächerten Palette von Möglichkeiten) immerhin Autoren wie Peter Hille, PeterHille, Christian Morgenstern, ChristianMorgenstern, Franz Kafka, FranzKafka, Ferdinand Ebner, FerdinandEbner, Rudolf Schröder, Rudolf AlexanderAlexander Schröder, Theodor Haecker, TheodorHaecker, Franz Werfel, FranzWerfel, Ernst Meister, ErnstMeister, Franz BaermannSteiner, Franz Baermann Steiner und Ludwig Strauß, LudwigStrauß stehen. Gleichzeitig, und das mag ein Grund für die Skepsis der Literaturwissenschaft sein, ist der Aphorismus auf der Ebene der Gebrauchsliteratur, in Lebenshilfe und Kalenderweisheit, bis auf den heutigen Tag von ungebrochener Attraktivität.
Da nimmt es nicht wunder, dass man den Briefband eines Autors wie Elazar Benyoëtz, der sich sein ganzes Leben lang ausschließlich dem Aphorismus und seinen lyrisch-meditativen Nachbarformen gewidmet hat, nicht ohne eine kurze Einführung zu Leben und Werk lassen kann. Dabei ist der Autor mehrfach mit Preisen ausgezeichnet worden; bedeutende Literaturwissenschaftler von Harald Weinrich, HaraldWeinrich bis HaraldFricke, Harald Fricke, die sich ihm zuwandten, haben ihn unisono in einer Reihe mit Lichtenberg, Georg ChristophLichtenberg, Kraus, KarlKraus und Canetti, EliasCanetti gesehen. Das hat an seiner Randstellung, nicht nur in geographischer Hinsicht, bisher wenig bis nichts geändert, wenn er auch in jüngster Zeit vermehrt zum Gegenstand literarisch-theologischer Erörterungen geworden ist.
Elazar Benyoëtz, 1937 in Wiener Neustadt geboren und bald darauf mit den Eltern nach Israel emigriert, war schon in jungen Jahren ein erfolgreicher israelischer Lyriker, ehe er 1963 für einige Jahre nach Deutschland ging, um dort vorwiegend wissenschaftlich-bibliographisch zu arbeiten und die „Bibliographia Judaica“ aufzubauen. In Israel wurde er dafür stark angefeindet. Zu den Fragen seiner literarischen Sozialisation hat er sich selbst häufig geäußert; auch die Briefexzerpte dieses Bandes sprechen vielfach davon. Seit 1969 lebt er in Tel Aviv und Jerusalem. Die Entfernung vom Sprachraum seiner Literatur ist konstitutiv, auch wenn die Kontakte nach Deutschland, in Briefen oder auf (Lese-)Reisen, vielfältig und eng blieben. Er veröffentlichte in regelmäßiger Folge deutschsprachige Aphorismenbände, zunächst in dem kleinen VerlagMüller, Gotthold Müller, dann bei Hanser, dem Verlag, zu dessen Autoren auch Stanislaw Jerzy Lec, Stanislaw JerzyLec und Elias Canetti, EliasCanetti zählen, und in jüngerer Zeit bei Braumüller (Wien) und Königshausen und Neumann (Würzburg) sowie in zahlreichen kleinen Privatdrucken, die zum großen Teil aus Lesungen entwickelt wurden. Ab 1990 erschienen neuartig strukturierte Bände, in denen neben Aphorismen tagebuchähnliche Kurzberichte, Lektürekommentare und literarhistorische Exkurse, Lyrik und Briefauszüge, Zitate und Selbstzitate zusammengestellt sind, nach 2010 auch vermehrt seine Lesungen in Buchform. Allesamt sind sie der verloren gegangenen deutsch-jüdischen Symbiose gewidmet. Das Jüdische ist bei allen Fäden in die Gattungsgeschichte hinein schon allein deshalb als das Neue zu verstehen, weil hier kein deutscher Jude mehr schreibt wie noch Ludwig Strauß, LudwigStrauß oder Werner Kraft, WernerKraft, sondern ein Israeli sich an deutsche Leser wendet.
Benyoëtz entwickelt sein (deutsch-)jüdisches Thema – Assimilation erscheint ihm als „Identitäuschung“ – von den Geschichten des Alten Testaments mit den Zentralgestalten KainKain, HiobHiob, AbrahamAbraham her. Er verfolgt damit das Konzept der Verbindung hebräischer Weisheitslehre und deutscher Aphoristik. Den Spruch bringt er mit Glauben, aber auch mit Widerspruch in Verbindung, mit beidem knüpft er an älteste Traditionen an. Das Buch KoheletKohelet, der Prediger Salomo, ist ihm Vorbild, das einzige, das er so unumschränkt gelten lässt. An diese hebräische Spruchdichtung sucht er mit seinen „Sprüchen“ und ihrer Autorität anzuschließen. Für sein Gesamtwerk ist es charakteristisch, dass er es in Teilen oft aufnimmt, variiert und neu komponiert; es ist von der Suche nach einer aphoristisch-lyrischen Mischgattung gekennzeichnet. Der Ausgangspunkt seiner Poetologie ist eine höchst komplexe Kürze, durch Mehrsinnigkeit mit Spannung aufgeladen, die etwa dem Wortspiel in aller Regel eine neue Kraft verleiht. Auch die Definition ist in das Spannungsreich-Ambivalente hinein weiterentwickelt, in dem Gleichsetzung, Gegensatz, Folge, ironische Durchleuchtung, entgegensetzende Antwort in wechselnden Anteilen enthalten sind.
Thematisch steht Benyoëtz gleichfalls mit zentralen Komplexen seines Werkes in der Tradition der Gattung, und er führt sie nicht nur fort, er entwickelt sie fort. Aus einer zentralen Uneindeutigkeit, einer bewussten Ambivalenz zwischen kotextueller Isolation sowie Zusammenhang und Einbindung als Teil eines Größeren, entwickelt sich das Gattungsweitende und -überschreitende. Das dem neuen Buchtyp zugrunde liegende Mittel ist das Zitat. Erinnerung als lebendig-ganzheitlich, gegenwärtig und vergegenwärtigend ist dabei ein Leitmotiv. Auch mit Versbrechung und Mittelachse, die endgültig einen Grenzbereich zwischen Aphorismus und Lyrik besetzen, geht eine innovative Veränderung einher. Dabei sind die abgrenzende Aufnahme der Sprachmythisierung und -personalisierung von Karl Kraus, KarlKraus und insbesondere die Verbindungslinien zu Kafka, FranzKafkas Aphoristik mit ihrer autonomen Bildlichkeit ebenso von Bedeutung wie die Beziehungen zu den jüdischen Exilaphoristikern FranzSteiner, Franz Baermann Baermann Steiner und Ludwig Strauß, LudwigStrauß und, von Martin Buber, MartinBuber her, das dialogische Prinzip.
Benyoëtz, der unter allen zeitgenössischen Aphoristikern das meiste interpretatorische Interesse geweckt hat, gilt als der bedeutendste deutschsprachige Gattungsautor der Gegenwart. In einer Gattung, die zu seiner Zeit in Deutschland, von ein paar frommen Erbauungsaphoristikern abgesehen, fast ausschließlich von sozialpolitisch orientierten, im Übrigen agnostisch-atheistischen Autoren geprägt ist, sich in ihrer Breite der Variation vorgegebener Muster widmet und in Gesinnungs- und Lebenshilfeaphoristik ergeht, stellt Benyoëtz’ Aphoristik mit seinen Konzepten von Kürze und Wörtlichkeit, seinem Erproben von Autorität und Weisheit als aphoristische Grundlagen, insbesondere aber mit seiner Metaphorik in der Nähe des Schweigens in Verbindung mit der Mittelachse einen durch das Miteinander von hochintellektueller Literatur und Religiosität beispiellosen Gipfelpunkt dar.
Hier ist wohl auch ein persönliches Wort zu der Beziehung des Herausgebers zum Autor angebracht, weil es dem Leser erlauben wird, den vorliegenden Band auch in dieser Hinsicht einzuschätzen. Kennengelernt als Autor habe ich Elazar Benyoëtz im Zuge meiner jahrzehntelangen Beschäftigung mit dem Aphorismus, sei es literaturhistorisch, sei es zeitgenössisch, zu Ende des Jahres 1976; mein Besitzeintrag