Tanner. Urs Schaub. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Urs Schaub
Издательство: Bookwire
Серия: Simon Tanner ermittelt
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783857919435
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am Friedhof vorbei, windet sich weit in die brachen Felder und Wiesen, die oberhalb des Dorfes liegen. Die Felder werden in Richtung See von der Autobahn begrenzt, welche die Landschaft kategorisch durchschneidet. Jenseits dieser dick gezogenen Linie kann man die Häuser vom nächsten Dorf sehen und weit in der Ferne ahnt man den See.

      Das Tor des Friedhofes ist verrostet und lässt sich nur mit einiger Anstrengung öffnen. Das laute Quietschen des Tores erschreckt ihn und schuldbewusst blickt er sich um. Er kann aber niemanden sehen. Gleichmäßig sind die Grabstätten verteilt. Alles ist sorgfältig gepflegt.

      In der linken Ecke gibt es zwei Kindergräber. Beide Gräber sind noch nicht alt. Genau wie er es erwartet hatte. Die Erde scheint, vor allem bei dem einen Grab, wie vor wenigen Wochen frisch aufgeworfen. Die Blumen sind verwelkt. Bei dem anderen Grab liegt das Begräbnis schon etwas länger zurück, aber auch da fehlt noch der endgültige Grabstein.

      Der Anblick von Kindergräbern macht ihn beklommen. Wie immer.

      Ein Eindringling, der nicht das Recht hat, an diesen Gräbern zu stehen.

      Bevor Tanner auf den provisorischen Holzkreuzen die Namen lesen kann, hört er ein Geräusch hinter den hohen Bäumen und Sträuchern, die außerhalb der Friedhofsmauern stehen. Aufgeschreckt stolpert er in Richtung Tor, fällt auf seine Knie, flucht leise vor sich hin und hört ein wildes Schnauben. Als er sich wieder aufrichtet, steht vor ihm ein mächtiges, rabenschwarzes Pferd.

      Es steht unbeweglich da. Als ob es schon zu Lebzeiten in Bronze gegossen wäre. Aus seinen Nüstern bläst dampfender Atem. Das Pferd ist gesattelt und gezäumt, aber ohne Reiter. Die Zügel hängen lose herunter.

      Wie heißt das Pferd von Alexander dem Großen?

      Das Pferd ist überrascht, das heißt wohl eher konsterniert über den energischen Gestus, mit dem ihm die Frage gestellt wurde, so dass es weiter in seiner antik wirkenden Haltung verharrt. Da beiden die Antwort nicht einfällt, greift Tanner, mehr aus Verlegenheit denn aus tierpflegerischer Ambition, nach den Zügeln des Pferdes und überlegt sich eine nächste Frage, die er dem Pferd stellen könnte. Zum Beispiel, wie es komme, dass es allein, ohne Reiter, aber gesattelt, durch die Gegend irre und einsame Friedhofsbesucher erschrecke?

      Das heißt, er wollte gerade diese nächste Frage stellen, als ein Geländewagen mit kreischenden Rädern angebraust kommt, jäh abbremst, zwei Männer aus dem Wagen springen und auf Tanner zustürmen.

      Das Pferd erschrickt, und noch bevor Tanner reagieren kann, bäumt es sich auf und reißt ihn, der, ohne es wirklich zu wollen, die Zügel mit der Hand umklammert, in die Höhe. Sobald das Pferd wieder steht, ist der Jüngere der beiden Männer, ein Schwarzer, der seine rote Wollmütze bis tief auf die Augenbrauen hinabgezogen hat, bei Tanner und entreißt ihm die Zügel. Unsanft wäre eine schamlose Untertreibung.

      Der ältere Mann stapft vorbei und schreit Tanner ständig etwas zu, was er aber nicht versteht. Eigentlich hört er ihn nicht einmal. Alles, was er wahrnimmt, ist ein sich ständig aufreißender Mund, wie in Großaufnahme.

      Schnell hat der Schwarze das Pferd gebändigt.

      Hinter den Bäumen hört man ein weinendes Kind. Die beiden Männer schreien sich etwas zu, was Tanner aber auch nicht versteht. Der Schwarze schwingt sich kraftvoll auf das Pferd und stiebt im wilden Galopp davon.

      Jetzt kommt der andere Mann, der in der Zwischenzeit hinter der Baumgruppe verschwunden war, wieder hervor und zerrt an seiner Hand ein rotblondes Mädchen energisch hinter sich her. Sie weint und hat Blut an ihrer Stirn. Sie trägt Jeans, rote Lederstiefel und eine flaschengrüne Reiterjacke, wattiert und abgeschabt. In ihrer Hand hält sie einen schwarzen Reiterhelm. Das Mädchen ist nicht so jung, wie Tanner auf Grund des Weinens dachte. Er schätzt sie, jetzt, wo er sie sieht, auf siebzehn Jahre.

      Hat sie sich verletzt?, fragt er einfallslos. Man sieht ja, dass das Mädchen blutet, und nicht zu knapp.

      Der Mann antwortet ihm nicht und marschiert grimmig an ihm vorbei. Auf seiner Stirn leuchtet eine Narbe. Sie sieht aus wie ein Halbmond. Darüber trägt er wilde Haare von einem erstaunlich kräftigen Weiß.

      Das Mädchen guckt Tanner im Vorübergehen an. Ihre Lippen zittern, als ob sie etwas sagen möchte.

      Wieder reißt sie ihr Vater, oder Großvater, an der Hand. Während sie stolpert, lächelt sie leicht. Vielleicht hat sie auch nur, wegen des Stolperns, den Mund verzogen.

      Der Mann bugsiert das Mädchen in den Fond des Geländewagens, umschreitet den Wagen, ohne Tanner eines weiteren Wortes oder Blickes zu würdigen, wendet und braust in Richtung der Autobahnbrücke.

      Vor der Kurve leuchtet nur eines seiner Bremslichter auf. Dann ist er verschwunden. Eine Weile hört man noch den jaulenden Dieselmotor.

      Dann fällt der erste Regentropfen.

      Tanner betrachtet den Himmel. Ohne dass er es vorhin bemerkt hätte, hat die Windstärke zugenommen. Der Himmel ist mit dunklen Wolken bedeckt. Jetzt regnet es, und kurz darauf gießt es aus allen Kübeln.

      Tanner schließt pflichtbewusst das Tor zum Friedhof und rennt zum Bauernhaus. Tropfnass erreicht er das Haus und stellt sich atemlos unter das Vordach. Die Garagentür steht immer noch offen. Seine Vermieter sind noch nicht zurückgekehrt. Er schaut durch die Glasscheibe der Haustür und zuckt zusammen.

      Er blickt direkt in zwei dunkle Hundeaugen, die ihn unbeweglich anschauen. Der große Hund hat sich auf seine Hinterbeine gestellt, die Vorderpfoten gegen die Tür gestemmt und seine Augen fixieren ihn. Tanner schaut so lange, bis der Hund unsicher wird und sich wieder auf den Boden fallen lässt. Oder hat er seine Augenprüfung bestanden?

      Bevor er die Außentreppe hinaufsteigt, zieht er seine nassen Schuhe aus. Die Katze erwartet ihn vor der oberen Tür und Tanner bringt es nicht übers Herz, sie wegzujagen. Also kommt sie mit in sein Zimmer. Sie lässt sich völlig selbstverständlich auf dem Bett nieder.

      Weißt du, wie das Pferd von Alexander dem Großen heißt?

      Ich habe es nämlich gerade gesehen und konnte es leider nicht korrekt ansprechen. Aha, du weißt es also auch nicht. Weißt du wenigstens, wie das rotblonde Mädchen heißt, das vom Pferd gefallen ist?

      Statt einer Antwort streckt sich das kleine Tier und versenkt seine Krallen ins weiße Kopfkissen.

      Erneut versucht er sie telefonisch zu erreichen. Diesmal lauscht er andächtig ihrer Stimme auf dem Anrufbeantworter. Nach dem Piepston unterbricht er die Verbindung.

      Die zweite Tür seines Zimmers führt in einen Korridor, von dem noch zwei weitere Türen abgehen, und da befinden sich auch eine Toilette, eine Dusche und ein Lavabo. Er putzt seine Zähne und zieht sich aus. Sanft, aber entschieden schiebt er die Katze vom Kissen und legt sich ins Bett.

      Ich taufe dich jetzt offiziell auf den Namen Rosalind. Any objections, mylady?

      Er löscht das Licht. Zur Antwort leckt die Katze seine Nase und schnurrt ein Schlaflied mit unzähligen Strophen.

      Draußen fällt der Regen und Tanner hört die Schweine. Also sind sie noch nicht geschlachtet. Er denkt an den Witz mit den beiden Hühnern von der Hühnerfarm. Sie wispern heimlich.

      Hast du auch gehört? Wir dürfen irgendwohin in die Ferien!

      So? Wohin denn?

      Irgendwas mit Wien und einem Wald!

      Tanner schließt die Augen und sieht das Pferd. Wie heißt du bloß?

      Sieht die Augen auf dem Bild von Leonor Fini. Wo bist du?

      Das blutende Gesicht des Mädchens. Tut's noch weh?

      Die Augen des Hundes. Träumst du?

      Die frischen Gräber. Seid ihr im Himmel?

      Einen leuchtenden Halbmond. Warum so wütend?

      Sein letzter Gedanke ist, dass es fahrlässig ist, seine Dienstwaffe einfach so im Auto zu lassen! Morgen. Morgen …

      ZWEI

      Halte