Es bedeutete mir immer besonders viel, wenn Mama mich mit zur Stadt nahm, um «Kommissionen zu machen». Ich fühlte mich geborgen, ihr zugehörig, wenn ich an ihrer Hand durchs Quartier und über die Kornhausbrücke trippelte. Der Kindlifresser auf dem Brunnensockel am Stadteingang zog mich stets von neuem in den Bann. Die furchterregende Gestalt machte einen ungeheuren Eindruck auf alle Kinder.
Die Innerstadt mit ihren gemütlichen, schützenden Lauben, der Zytglogge sowie der Bärengraben waren für mich der Inbegriff meiner geliebten Stadt Bern.
Wir legten meist erstaunlich lange Strecken zu Fuss zurück. Tramfahrten waren damals nicht üblich. Sie passten schon gar nicht in unser Budget. So hatten wir eben einen erheblichen Schuhverschleiss. Wir Mädchen trugen vorwiegend die traditionellen schwarzen Spangenschuhe mit dem kniffligen Knopfverschluss, der nur mit einem speziellen Häkchen und etlichem Aufwand geschlossen werden konnte.
Im Schuhgeschäft an der Marktgasse erhielt ich jeweils einen bunten Ballon, den mir die Verkäuferin ans Handgelenk band. An dieser fliegenden Kugel konnte ich mich enorm begeistern. Alle meine Bewegungen machte sie in leichter Verzögerung mit. Zu Hause knüpfte ich den Ballon an meinem Puppenwagen fest und rannte damit auf dem Trottoir hin und her. Abends im Zimmer beschäftigte ich mich immer noch mit diesem Wunderding.
Immer wenn Weihnachten näher rückte, nahm Mama im Warenhaus Loeb an der Spitalgasse eine Stelle an. Sie arbeitete dort als Verkäuferin während der Wintersaison. Das ergab einen geschätzten Zustupf in die Haushaltkasse. Diese Zeit verbrachten wir noch nicht schulpflichtigen Kinder im städtischen Jugendheim im Mattenhofquartier. Dort seien wir gut aufgehoben, versuchten uns die Eltern verständlich zu machen.
In diesem Heim herrschte eine strikte Tagesordnung. Zum Frühstück gab es regelmässig den kernigen, verhassten Haferbrei. Auf harten Bänken sassen wir an langen Tischen und schauten zu, wie die «Tanten» uns einen Schöpflöffel voller Brei auf die Teller klatschten. Eine andere Tante band uns den Esslatz um. Sie schnürte ihn so eng, dass man kaum noch Luft holen konnte. Gelang es uns nicht, im richtigen Moment den Finger zwischen Latz und Hals zu schieben, wurden wir fast stranguliert, und der Haferbrei rutschte nur mühsam die Kehle runter.
Tag für Tag trugen alle Kinder die selben karierten Ärmelschürzen. Blaue für die Mädchen und rote für die Knaben. Zum Schutz gegen Wind und Kälte wurden wir für den täglichen Spaziergang in dicke schwarze Pelerinen gehüllt. Den Rest des Tages verbrachten wir vorwiegend im Hause beim Spielen. Einmal im Zimmer, durften wir diesen Raum ohne Abmeldung nicht mehr verlassen. Etwa wöchentlich einmal erschien die Vorsteherin im Spielzimmer, klatschte in die Hände, sang ein Lied und hüpfte mit uns im Kreise herum. Danach war ihr Kontakt-Soll erfüllt, und sie überliess uns wieder den Tanten, die sich mehr oder weniger gefühlvoll mit uns abgaben.
Nachts wurden wir an den Füssen ans Gitterbett gefesselt, weil die Tanten nicht mochten, dass wir die Decke wegstrampelten. Umdrehen im Bett war somit unmöglich. Wir mussten die ganze Nacht in der selben Position verbringen. Ich bewunderte meinen Bettnachbarn, dem es gelang, die Fussbänder zu lösen. Das Kopfkissen, in dem wir uns verkuscheln wollten, wurde uns unter dem Kopf weggerissen. Ein Kissen sei ungesund und führe zu einem Buckel.
Diese Umplatzierung ins Heim hatte zur Folge, dass uns eine Weihnachtsfeier im Kreise der Familie nicht beschieden war. Ein Christfest zu Hause habe ich ein einziges Mal bewusst erlebt, als ich sechs Jahre alt war. Elsbeth war wie Markus schulpflichtig geworden und musste nicht mehr ins Heim. Dadurch hatte ich das Glück, dass ich nicht allein dorthin abgeschoben wurde. Wir hatten mindestens drei lange, freudlose und trübe Winter in diesem Kinderheim verbracht. Erst als sich der Frühling ankündete, wurden wir von den Eltern dort wieder herausgeholt.
An gewissen Tagen machte der Migros-Verkaufswagen im Nord-Quartier die Runde. Soeben hatte er in unserer Strasse Halt gemacht. Der Fahrer, der zugleich als Verkäufer amtierte, liess eine Glocke erklingen, dann erschienen aus allen Hauseingängen kurz darauf Frauen in langen Röcken und bunten Rüschenschürzen. Mit und ohne Kinder strebten sie zum mobilen Warenladen.
Mama hatte uns, meine sechsjährige Schwester und mich, beauftragt, dort am Stand Gemüse und Käse einzukaufen. Mit einem Küchengefäss in der einen, einem Zweifrankenstück in der andern Hand und mich als Fünfjährige im Schlepptau näherte sich Elsbeth dem Gerangel.
Die ganze Käuferschaft drängte sich wie ein Knäuel um den Verkaufsstand. Schubsen war an der Tagesordnung, diszipliniertes Anstehen kannte man zu jener Zeit noch nicht. Kinder wurden meist rücksichtslos zur Seite geschoben.
Die korpulente Frau Zuber aus dem Nachbarhaus hatte keine Mühe, ihren Platz in der Menge zu behaupten. Schritt um Schritt rückte sie wie eine Walze vor. Mit anderer Taktik kam die schlanke Frau Eberhard an ihr Ziel. Sie machte sich jede zufällige Lücke zu Nutze, um nach vorne zu kommen und die schönsten Äpfel und den frischesten Salat zu erwischen.
Wir standen hinter der dicht gedrängten Menschenansammlung und schauten dem Treiben unfreiwillig von unten zu. Neu eintreffende Käuferinnen stiessen uns immer wieder weg. Dies wollte schliesslich meine Schwester nicht mehr länger hinnehmen und versuchte, sich zwischen den Leuten durchzuschlängeln. Dabei wurde sie von einer Frau heftig angestossen, und ihr fiel das Geldstück aus der Hand. Es rollte zwischen den Schuhen der Wartenden davon und verschwand. Die langen Röcke der Käuferinnen wirkten wie ein dichter Vorhang.
Als die Leute begriffen hatten, warum wir vordrängen wollten, war die Münze nirgends mehr zu sehen. Sie konnte in die Abwasserrinne gerollt sein. Die Wahrscheinlichkeit, dass sich jemand schnell danach gebückt hatte, lag wohl näher. Aber niemand hatte etwas gesehen oder gehört. Elsbeth war fassungslos; sie konnte sich der Tränen nicht erwehren, ich schluchzte mit. Was sollten wir bloss tun? Mama wartete bestimmt schon ungeduldig auf das Gemüse.
Die Hausfrauen hatten ihre Einkäufe erledigt und waren gegangen. Ratlos verweilten wir neben dem Stand und konnten uns nicht entschliessen, nach Hause zu gehen. Zu unserem Leidwesen begann der Verkäufer, die Ware für die Weiterfahrt einzuräumen. Da nahm mich Elsbeth an der Hand und sagte resigniert: «Komm, wir gehen.»
Sie musste mich mit Gewalt vom Wagen wegziehen. Den Blick auf die Ware gerichtet, lief ich beinah rückwärts. Elsbeth reagierte ungehalten, sie schüttelte mich am Arm und sagte: «Beweg dich endlich, sonst lass ich dich stehen.»
Der Wagenführer hatte seine Aufräumarbeiten beendet. Er beobachtete uns nachdenklich und zog seine Mütze zurecht. Gleich würde er mit dem noch vollgestopften Wagen wegfahren, während wir mit unserem leeren kleinen Gefäss abziehen mussten. Da winkte er uns zu und rief: «Hallo, ihr Mädchen, kommt doch mal zurück.»
Wir blieben stehen. Der Mann kam uns entgegen, nahm meiner Schwester das verbeulte Löcherbecken aus der Hand und fragte aufmunternd: «Nun, ihr Kinder, was hättet ihr denn haben sollen?»
Elsbeth wischte sich mit dem Handrücken die Tränenspuren weg und zählte auf: «Ein Kilogramm Kartoffeln, vier oder fünf Karotten und dann noch etwas Käse fürs Geld – aber wir haben ja keines mehr», fügte sie erschrocken hinzu.
«Keine Bange, sicher hat jemand euer Geld eingesteckt», erwiderte er, deckte die Gemüseharasse noch einmal ab, füllte das Aluminiumbecken mit Kartoffeln und Karotten und überreichte es meiner Schwester. Dann holte er ein abgeschnittenes Käsestück, das offenbar einer Kundin nicht genügt hatte, unter der Glasglocke hervor, wickelte es ein und drückte mir das Päcklein in die Hand. «Das darfst du deinem Vater bringen. Und nun beeilt euch, bevor euch die Mutti suchen kommt.»
Elsbeth trug das Gemüsegefäss wie ein kostbares Gut behutsam vor sich her, während ich das Käsestück fest umklammert in meinen Händen hielt. Voll Freude und Dankbarkeit strebten wir leichtfüssig