Ein halbes Jahrhundert später bin ich auch im Norden heimischer geworden und weiss, dass Glück zu haben in Ort und Zeit kein Verdienst ist. Doch die Kardinalrichtung meines Lebens hat sich nicht geändert. Ich erinnere mich an Gespräche meiner Eltern mit Gästen. Von Venedig, Mailand, Ravenna, Pisa und Florenz war die Rede. Diese Städte waren mir wirklich wie Fabriken und Wälder; ihre Schönheit wachte in Büchern und Mappen, unverrückbar. Dorthin gehörte ich. Wenn ich von Florenz südwärts reiste, würde ich nach Rom kommen. In der Sixtinischen Kapelle stellte ein Fresko die Erschaffung des ersten Menschen dar. Ein Tafelwerk über diese Sixtinische Kapelle lag bei den Kunstbüchern im Schrank mit den Glastüren. Und im Hausflur hing das Bild, auf dem aus Gottes ausgestrecktem Zeigefinger der unsichtbare Geistfunke in den Finger des sich im Erwachen aufrichtenden Adam überspringt. Ich habe mit elf nicht mehr an die Schöpfungsgeschichte geglaubt. Und doch sprach das Bild in der Sixtinischen Kapelle die Wahrheit.
Denn es gibt noch zwei weitere Richtungen: oben und unten.
I. Erste Bilder
Wegfahren
Kreisrunder Ausschnitt, der Grund dunkelbraun, weich im Gefühl, ein Teppich wohl; auf dem braunen eine gelbe Spielzeuglokomotive, Holz, hinter ihr zwei oder drei gelbe Eisenbahnwägelchen. Ich schiebe die Lok langsam über die braune Fläche, der Ausschnitt wandert mit, hinterher rollen gemächlich die Wägelchen. Ich schiebe, die Lok zieht, die Wagen gehorchen. Schieben ziehen, Gefühl von sanfter brauner Weite nach allen Seiten, Behagen, überallhin freie Fahrt. Weit, weit weg.
(Lok und Wägelchen haben nie zu meinen Spielsachen gehört. Das Bild datiert aus dem zweiten Lebensjahr und ist anlässlich eines Besuchs eingelagert worden.)
Der Geruch
Unter Bäumen im Ausgangswagen auf einem breiten Gehsteig, Sonne wechselt mit Schatten, auf der einen Seite eine asphaltierte Strasse, weit, leer, auf der andern Mauern, über sie, auf den Gehsteig hängend, blühende Büsche, Farben und Duft. Plötzlich geht das Licht aus, mir ist, die Sonne sei vom Himmel gefallen. Ein widriger, aufdringlich süsser, klebriger Gestank trübt die Luft und bedroht mich. Ich werde unruhig, will fort aus der Geruchsschwade, die mich verschluckt hat. Kann nicht. Doch schon scheint wieder die klare Sonne, Mutter, Vater, Geschwister spazieren heiter, friedlich, als ob wir nicht soeben einer grossen Gefahr entronnen wären. Sie heisst «Samengeruch».
(Drittes Lebensjahr. Die Erinnerung schlummert während Jahren, wird eines heissen Sommertags aufgestört; diesmal dringt der Geruch aus dem weiten Garten einer Villa, wieder das Grauen, der Fluchtimpuls. Viel später finde ich heraus, dass er von den saftklebrigen, dampfend schlappen Johannistrieben der Pappeln verströmt wird. Meine Reaktion auf diese übermächtige, künstlich gesüsste Ausdünstung bleibt dieselbe. Warum «Samengeruch»? Ich weiss es nicht.)
→Abwässer →Fabrikgerüche →Gestank →Tinte
Holzbär
Den rechten Arm weit vorgestreckt, in der Hand einen spannenlangen geschnitzten Holzbären, gehe ich durch die finstere Küche auf den Abort. Dort erledige ich das Geschäft, ergreife den Bären auf dem Fenstersims, ziehe am Holzgriff der Kette zum Spülkasten, ein bedrohlich tosender Wasserguss, ich reisse die Tür auf, schlage sie zu und taste mich, eine Armeslänge hinter dem Tier her, durchs Küchendunkel ins Wohnzimmer zurück.
(Drittes Lebensjahr. Ich wurde meine Angst vor dem Dämmer in der Küche und der Wucht der Spülung aus dem hoch oben an der Wand angebrachten Kasten nicht los. Die Mutter, müde, mich zu begleiten und mir beim Herunterlassen des Hosenladens zuzusehen, drückte mir den Holzbären in die Hand: er werde mich vor dem schwarzen Mann in der Küche beschützen und dafür sorgen, dass das Wasser nicht über den Rand der WC-Schüssel steige und mich in die Kanalisation hinunterspüle. Ich glaubte ihr ohne Wanken.
Ich wiederhole die Übung einige Male, dann ist die Furcht überwunden, und der Bär, seiner magischen Macht beraubt, verschwindet in einer Spielzeugschachtel; eine Brienzer Schnitzerei.)
→Abwässer →Das Bärlein →Erste Heimlichkeit
Erwachen mit drei Jahren
Sonnenlicht sintert durch Vorhänge ins Zimmer. Ich liege im weissen Gitterbett an der Hinterwand; die Betten meiner Geschwister stehen, etwas abgerückt von den Fenstern, an den Seitenwänden des Raums. Bald wird die Mutter kommen; ich liege still in meiner pochenden Erwartung und blicke auf die Tür ein paar Schritt vom Fussende des Bettchens. Draussen vor den Fenstern läuten Glocken; Sonne und Kirchengeläut sagen: Heut ist Sonntag.
Die Tür öffnet sich. Die Mutter geht quer durchs Zimmer, zieht die Vorhänge zurück, das Licht im Raum wird warm. Sie kommt auf mich zu, beugt sich lächelnd über die weissgestrichenen Holzstäbe des Gitters: Schnuusserli, itz weimer uuf (Flitzerchen, nun wollen wir aufstehen). Hast du gut geschlafen? Sie streichelt mir über beide Wangen, dann klinkt sie das Gitter aus und kippt es weg. Ganz nahe kommt sie, legt ihre Arme um mich und hebt mich hoch. Wir geben uns Küsse. Setzt sie mich auf den Bettrand? Stellt sie mich auf den Boden? Mich füllt Atem von Glück, Licht, Geläut. Es flimmert und blendet vor den Fenstern und auf dem Zimmerboden. Aufstehen, Gewaschenwerden, Honigbutterbrot, Kakao, alles miteinander möglichst schnell. In den Garten rennen, in die Sonne, zu den Goldfischen.
→Der weisse Pullover →Schneekönigin →Waschtag
Dr. med. Ginella
Entdeckt er mich im Garten, ruft er, ich laufe zu ihm hin, er hebt mich vom Boden hoch, herzt und küsst mich, überschüttet mich mit Kosenamen. Hat er Zeit, führt er mich an der Hand zum Springbrunnen und zeigt mir die Goldfische, die aus dem Schatten in die Sonne, aus der Sonne in den Schatten zucken, aufblitzend, erlöschend, geheimnisfarben. Ich liebe ihn; er steckt voller Zärtlichkeiten und Kleinigkeiten: Bald kramt er ein leeres Fläschchen aus seiner Tasche, bald ein Tierlein oder ein Bildchen.
Dass er Arzt ist, sagt mir sein Wagen; nur Ärzte dürfen Auto fahren. Über der Hinterachse ist ein Stehkessel montiert, Holzvergaser geheissen. Dr. Ginella lässt mich auf seinen runden Schultern zum Gartentor reiten, tritt hindurch. Linker Hand ist die Garage, rechter Hand hoch über mir sind die Nordfenster und die Terrassen der Wohnung im Obergeschoss, wo ich zu Hause bin. Ein verkrauteter Hof, Karrengleise und Kies. Dahinter ducken sich Herrn Aeschbachs Scheune und Stall. Drin steht Bobi, sein Pferd, das weisse Papierflocken frisst, «Zellulose», Ersatzheu, weiss ich; Pferdemägen können Zellulose verdauen. Diese Flocken werden von Maschinen hergestellt, aus Holz, um den Hafer zu strecken, denn es ist Krieg. Bobi frisst auch gelbes Heu; doch wenn der Bauer das Futter von hinten in den Trog schüttet, sticht mir im Halbdunkel des Stalls der Flockenschnee in die Augen.
Dr. Ginella stellt mich auf den Kies; ein