Die Stimme des Atems. Ernst Halter. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Ernst Halter
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Изобразительное искусство, фотография
Год издания: 0
isbn: 9783038550839
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musste, dass die echte «Ilias» nur den Zorn Achills im zehnten Jahr der Belagerung Trojas besingt und noch vor dessen Eroberung abbricht.

      Kinder unterscheiden zwischen Form und Inhalt, Kitsch und Kunst, E- und U-Literatur, Jugend- und Erwachsenenbüchern nicht – und auch nichts zu begreifen, ist ein achtbares Verständnis, solange man damit nicht hausieren geht. Was sollen Qualität, Ruhm und Gesinnung? Das Herz muss heiss bleiben. Ich frass mich durch Coopers «Lederstrumpf», Lienerts «Schweizer Sagen und Heldengeschichten», «Nils Holgersson» von Selma Lagerlöf, Hector Malots «Heimatlos», «Svizzero» von Niklaus Bolt, Tolstois «Volkserzählungen», «Theresli» von Elisabeth Müller, «Die Judenbuche» der Droste und Dahns «Ein Kampf um Rom», «Die Tore auf!» von Traugott Vogel, «Bambi» von Felix Salten und Turgenjews «Aufzeichnungen eines Jägers», «Lichtenstein» von Hauff und Grubes «Geschichtsbilder», das «Nibelungenlied», Kreidolf und «Parzival». Mir ist nie ein Buch verboten worden – mit Folgen: Der liebe Kindergott verbarg sich bald hinter finstrem Gewölk. Denn das gewaltigste Bilderbuch meiner Kindheit war Prof. Dr. J. von Pflugk-Harttungs sechsbändige, viertausendseitige «Weltgeschichte».

      →VorausschuleVorlesen

      Zofinger Tagblatt, 17. Dezember 1940

      Wo kann man Globis Taten verfolgen? (…) In den Globi-Büchern. Bereits 6 Bände erschienen. Die humorsprühenden Bilder stammen von Robert Lips, die lustigen Verse von A. Bruggmann. Alle Globi-Bücher haben wegen ihres urfidelen Inhaltes reissenden Absatz gefunden. Noch vorrätig: «Globi wird Soldat». Soeben erschienen: «Geschwister Globi». Preis: je Fr. 2.–. Globus Aarau. Nächsten Sonntag nachmittags geöffnet.

      Hefte austeilen

      Zweite Klasse. Der Stoss korrigierter Diktathefte liegt auf dem Pult vor Fräulein K. Sie hat braune gewellte Haare, trägt eine braune Hornbrille. Sie ist bleich, sie ist weder dick, alt, hässlich, böse noch schlank, jung, schön, lieb. Sie ist eine Respektsperson, obwohl sie gut zu uns ist. Ich empfinde weder Angst noch Zutraulichkeit. Ich möchte sie nicht zur Mutter, doch das kann sie nicht sein. Heisst sie doch Fräulein.

      Fräulein K. räuspert sich. Eine kleine Leere dreht sich mir in der Magengrube. Ob sie mich als ersten aufrufen wird? Also, sagt Fräulein K., hebt das oberste Heft von der Beige und liest den Namen: null Fehler. Für einen Augenblick ist er mir abscheulich. Das Mädchen geht nach vorn, dankt, dreht sich um, strahlt: Siegerin. Fräulein K. hebt das zweite Heft ab und liest meinen Namen: ein Fehler. Meine Enttäuschung ist total: Die ganze Übung, die Mühe, die ich mir gegeben habe – für die Katz. Ich nehme das Heft in Empfang, wieder am Platz, schlage ich es auf: ein fetter roter Tintenstrich unter «Brsust». Immer schiesse ich unnötige Böcke.

      Die Fehlerzahlen steigen. Die Kinder zotteln, den Blick auf den Schuhen, hin und zurück. Wi laufsch au! tadelt Fräulein K., doch spricht sie nicht weniger müde und enttäuscht, als die Kinder latschen. Die Quote klettert auf über 20. Noch drei Hefte; ein Spitzbube nimmt es leicht. Wieder dreht sich eine Luftblase im Magen. Ein Heft ist übrig. Fräulein K. ergreift es zögernd, rückt die Brille zurecht, als ob sie den Namen nicht lesen könnte. Und jetzt weiss ich, wer es ist; alle starren ihn an: der dumme Riese. Er ist älter als wir, bereits hat er ein Jahr repetiert; stark und breitschultrig sitzt er da, rot im Gesicht, und starrt auf seine Warzen. Resignation schwingt in der Stimme des Fräuleins: Albertli L., unendlich Fehler!

      →Aufsätze verbessernGerechtigkeitTinte

      Rita G.

      Kinder heiraten im Kindergarten. Da mir diese Institution erspart bleibt, heirate ich erst mit sieben Rita, meine Banknachbarin. Ein bleiches Püppchen, spricht wenig, leise, meldet sich selten, doch mit richtigen Antworten, ist lieb und blond wie ein Engel. Wir helfen uns mit Radiergummi, Tintenlappen und Farbstiften aus.

      Von Ritas Leben hinter der unsichtbaren Grenze, welche den Schulgang vom Familienalltag sondert, weiss ich nichts; ich bin nie bei ihr zu Hause, obwohl meine Mutter zuweilen im Damenmodegeschäft ihrer Eltern an der Vorderen Hauptgasse einkauft. Anziehend ist für mich nur der reinliche Stoffgeruch. Der anstossende Laden dagegen – Haushaltwaren und Armaturen – fesselt meine Vorstellung durch die entweder unabsehbaren oder unvorstellbaren Anwendungsmöglichkeiten der Gegenstände. Am längsten bleibe ich beim Uhrmacher auf der andern Gassenseite stehen, in dessen Schaufenster mehrere Pendulen lebendig sind; einige gehen gravitätisch langsam wie Leitkühe, andre schlagen hastig aus, als ob sie sich verschlafen hätten und die Zeit nachholen müssten. An der Ecke seines Hauses hat er ein Glockenspiel mit Figurinen eingerichtet. Mit dem Schlag der Stunde beginnen die Figürchen in fremdartigen, längst aus der Mode gekommenen Kostümen zu tanzen: Schäferin und Pierrot, Offizier und Fräulein, Bär und Esel.

      Tinte

      Selbst wenn im Lehrplan das Schreiben mit Tinte fakultativ gewesen wäre: ihres Geruchs wegen hätte ich mich ihr nicht entziehen können. Er wölkte, kaum war der Deckel am Fässchen zurückgeschoben, aus dem blauschwarz verkrusteten Loch. Er war anders als alle mir bekannten Gerüche, weder angenehm noch Übelkeit erregend. Bitter und metallisch, Inbegriff eines gefährlichen chemischen Destillats, sinterte er übers Pultblatt herunter; er war das Abenteuer der 1. Klasse. Kam die Lehrerin mit der spitz geschnäbelten Nachfüllkanne vorbei, stach er in die Nase.

      Aus Holz, längsgerillt, rot, gelb oder blau, war der Federhalter; er lief in eine Spitze aus und lag gleich einer Eidechse in der Hand. Die Soennecken-Einsteckfeder machte ihn zur Waffe; sie bohrte sich ins Pult oder den Parkettboden, wenn wir den Federhalter fallen liessen oder vor Eintritt des Lehrers damit nach einander warfen. Doch so messerscharf sie eindrang, so empfindlich war sie. Drückte man zu stark, grätschte die des Tintenflusses wegen gespaltene Spitze auseinander und war nicht mehr zurechtzubiegen, nun erst recht eine Schlangenzunge oder ein aufgesperrter Schnabel, mit dem man wütend herumkrakelte. Sie musste umgehend ersetzt werden. Mein erster Tintenlappen, genäht von der Mutter, war rund mit doppelter roter Lederabdeckung und einem höckrigen Glasknopf in Form einer Blüte, der die Stofflappen zusammenhielt.

      Beim Schreiben musste man das Löschblatt unter die Schreibhand legen. Rutschte es nach oben, zog sich eine blaue Schmierfahne von den noch nassen Buchstaben schräg übers Blatt, nicht wegzuradieren. Tauchte man die Feder ein und vergass, sie am Rand des Tintenfasses abzustreichen, setzte sie einen runden oder eiförmigen Tolggen ab; die Seite blieb, selbst wenn man sogleich mit dem Löschblatt zu Hilfe eilte, verloren, weil sich das Papier von der durchnässten Stelle aus strahlig zu verziehen begann. Der Lehrer tröstete mild oder schalt cholerisch und riss mit stummer Endgültigkeit das Blatt aus dem Heft. Ein Reinheft verwand derartige Verletzungen nie. Im Bewusstsein des Schülers blieb es gezeichnet, ein Krüppel, mit jedem herausgerissenen Bogen entwürdigter und lockerer in den Fäden hängend.

      Meine ersten Schreibversuche erinnere ich unter künstlichem Licht. Sie müssen in den Winter des ersten Schuljahrs gefallen sein, zwischen drei und vier Uhr, wenn die Kugellampen bereits angezündet waren. Vor mir steigt die Pultschräge hoch; zuoberst, wo das Pult flach wird, liegen in einer Längsvertiefung Lederetui, Lineal, Tintenlappen; ganz rechts, nicht sichtbar, steht der klebrig-schwarze Schlund des Tintenfasses drohend offen und dünstet herüber. Mich fesselt eine ängstliche Begierde. Auf dem Klappteil der Pultschräge halte ich das Heft fest. Ich tauche die Feder ein, streiche sie ab und male mich Bein für Bein den Buchstaben eines Wortes entlang. Der Strich bleicht aus, wieder tunke ich ein. Als ich weiterschreiben will, bemerke ich den rund bauchenden Tintentropfen an der Spitze. Voller Schrecken, doch vorsichtig, hebe ich den Federhalter weg, um nachträglich abzustreichen; der Tropfen fällt unterwegs aufs Pult. Mit einer Ecke des Löschblatts sauge ich ihn auf. Das soll mir eine