Doch wie wurde Pop überhaupt allgegenwärtig in der Schweiz? Christoph Fellmann beschreibt diese Transformation der Popmusik von der Subkultur zur Volkskultur. Der Preis: Eine gewisse Gleichförmigkeit. Medien haben in der Geschichte der Musik immer eine entscheidende Rolle für die Verbreitung gespielt, angefangen von der Erfindung der Schallplatte über die 45er-Single und die CD bis zum Siegeszug des Internets. Drei Medienthemen werden in diesem Buch vertieft: Ane Hebeisen spricht die veränderte Rolle des Radios an, das auch heute noch eine wichtige Rolle für die Promotion von Pop spielt. Martina Kammermann beschreibt den Siegeszug der digitalen Musik, die angesichts der kleinen Einnahmemöglichkeiten heute vor allem die Konsumenten und Plattformbetreiber glücklich macht. Mehr denn je ist der Videoclip ein zentrales Marketinginstrument. Lena Rittmeyer zeigt in ihrem Beitrag, wie souverän Bands dies heute pflegen. Die Bedeutung von professionellen Videoclips ist auch ein Beispiel, das zeigt, wie stark die Popmusik heute Teil eines kreativen Netzwerkes ist. Zu diesem zählen neben Grafikern und Webdesigner auch die Veranstalter und Vermittler, beispielsweise Clubverantwortliche und Festivalorganisatoren. Sie kommen im Text von Renzo Wellinger zu Wort.
In kaum einer Kultursparte ist der Graben zwischen der deutschen und der französischen Schweiz kleiner als in der Popmusik – auch wenn die Dynamik zur Zeit vor allem in eine Richtung geht: Christophe Schenk zeigt, wie Popmusiker aus der Romandie ihren Blick nach Aussen richten müssen; Auftritte in der deutschen Schweiz stehen ganz oben auf der Prioritätenliste. Eine Aussenperspektive ganz anderer Art nimmt der Auslandschweizer Hanspeter Künzler ein, der seit den Siebzigerjahren als Musikjournalist in England lebt: London ist trotz der Attraktivität Berlins weiterhin das Traumziel vieler Schweizer Popmusiker. Dabei dürfte sich die eine oder andere Band aber überschätzen, denn wer jenseits des Kanals bekannt werden will, muss zu härtester Knochenarbeit bereit sein.
«Time Is Now» ist auch keine Enzyklopädie des Schweizer Pop. Die Texte im Anhang sollen das Buch dennoch zu einem kleinen Nachschlagewerk machen mit einem Glossar, das die wichtigsten Begriffe erklärt, den wichtigsten Zahlen und Fakten zum Schweizer Popmarkt, einem Literaturverzeichnis sowie kurzen Abriss des Musikfestivals m4music, dessen Geschichte zusammenfällt mit der Professionalisierung der Schweizer Popszene und ihrer Transformation durch die Digitalisierung.
Die Autorinnen und Autoren von «Time Is Now» sind alle Kenner der Schweizer Popszene. Ihre Beschreibungen und Analysen fallen meist kritisch, sicher erfrischend aus. Kritik, mitunter auch heftig vorgetragen, hat die Popmusik bis heute begleitet. Kaum ein Argument, das nicht gegen sie vorgebracht wurde. Waren es zunächst ästhetische Argumente, so wurden es später ökonomische: Hat eine Band Erfolg, so ist der Vorwurf, «kommerziell» zu sein, nicht weit. Kontroversen zeugen aber von Leben, und sie sind allemal besser als Gleichgültigkeit. Ja, wir wünschen uns manchmal gar, dass ein solch kritischer Geist die gesamte Kulturberichterstattung durchfliessen würde.
Das Migros-Kulturprozent fördert Popkultur seit Langem als wichtige Kultur- und Lebensform in ihren unterschiedlichsten Ausprägungen. Mit dieser Publikation dokumentieren wir Haltungen, die in der heutigen Zeit massgebend und relevant sind. Als privater Kulturförderer sehen wir uns durchaus in einer Vorreiterrolle, wenn es darum geht, Themen, die das gesellschaftliche Miteinander betreffen, zu fördern und – wie die vorliegende Publikation zeigt – zu dokumentieren.
An wen richtet sich «Time Is Now»? Ganz einfach, an alle Musikinteressierten. An jene, die täglich Popmusik hören ebenso wie jene, die das nicht tun. «Time Is Now» will auch mehr sein als ein Buch zur Schweizer Popmusik: Es ist eine Momentaufnahme einer Szene, die in der heutigen Gesellschaft eine tragende Rolle spielt: vielfältig und kontrovers, leidenschaftlich und poetisch, grenzüberschreitend und vital, utopisch und zukunftsweisend. Kurz, let the music play!
Zürich im Sommer 2016
Sechzig Jahre nach seiner Entstehung in den USA ist Pop auch bei uns zur Musik geworden, die unseren Alltag begleitet und in der wir unser Leben wiedererkennen. Die Bandprobe ist gesellschaftlich nicht weniger akzeptiert als der Jassabend. So verwandelt sich Pop – abseits der glitzernden Kulissen des Starsystems – zurück in eine folkloristische Kultur, in ein riesiges, unerforschliches Hinterland.
Von Christoph Fellmann
Eine beliebige Bushaltestelle im Schweizer Mittelland zu einem beliebigen Zeitpunkt. An der Seitenwand hängen Plakate, die für Veranstaltungen werben. Für eine klassische Soiree, ein Kindertheater, ein Musical, drei Popkonzerte und vier Partys, auf denen DJs ebenfalls Popmusik auflegen. Vor den Plakaten warten acht Personen auf den Bus, und sechs davon hören Musik. Gefragt, was das ist, was sie hören, antworten alle sechs mit Namen von Popmusikern. Es ist offensichtlich: Pop ist, sechzig Jahre nach seiner Entstehung in den USA, auch bei uns zur Musik geworden, die unseren Alltag begleitet und in der wir unser Leben wiedererkennen. Pop ist unsere Volksmusik, und ebenfalls so gut wie an den Bushaltestellen des Mittellandes erkennt man das am Programm der kommerziellen Radiosender, die eben nicht Ländler spielen oder volkstümlichen Schlager, sondern internationalen Pop.
Es heisst, die Nachfrage bestimme das Angebot, aber da wird die Sache kompliziert. Klar, das Publikum hat heute mehr Musik zur Verfügung denn je, und es war auch noch nie so einfach, ein Lied zu produzieren und zu veröffentlichen. Bei Soundcloud etwa, einem Streamingdienst mit Sitz in Berlin, gibt es über hundert Millionen Titel gratis, und jede Minute wird nach Angaben des Dienstes von den vierzig Millionen registrierten Usern zwölf Stunden neue Musik hochgeladen. Doch all diese Musik wird von kaum jemandem gehört. Eine Studie über den Onlinehandel mit Musik im Jahr 2008 unterstreicht den Befund: Damals standen rund dreizehn Millionen Songs im Internet zum Verkauf. Zehn Millionen wurden kein einziges Mal verkauft, und 0,4 Prozent der Songs sorgten für über achtzig Prozent der Einnahmen. «Das Internet hat nichts daran geändert, dass die meisten Leute das hören wollen, was alle anderen auch hören», schreibt John Seabrook in «The Song Machine», seiner Recherche über die Massenproduktion von Hits in der Musikindustrie: «Die Hits sind grösser denn je.»
So mag es eine erfreuliche Nachricht sein, dass die Musikbranche zuletzt ihren fünfzehnjährigen Niedergang stoppen konnte – dank des Streamings, aber auch dank eines enormen Booms im Konzertgeschäft. Weniger erfreulich ist, dass davon, in den virtuellen Musikshops wie auch auf der Bühne, letztlich nur ein kleiner, exklusiver Kreis von Künstlern profitiert. Und dahinter verwandelt sich Pop zurück in eine folkloristische Kultur, in ein riesiges, unerforschliches Hinterland. Weitab der glitzernden Kulissen des Starsystems dienen die Lieder hier dem Alltagsgebrauch ganz gewöhnlicher Menschen. Hier spielen die Sänger, DJs und Bands eine meist gewöhnliche, vertraute Musik; eine Musik, die ihnen mehr ein sozialer Zeitvertreib ist als eine künstlerische Ambition. Verdienen werden sie damit nie viel mehr, als ein rühriges Profil auf Bandcamp, ein schmales Konto bei der Urheberrechtsgesellschaft und die Hutkollekte hergeben. Diese Musiker führen ein Künstlerleben mehr oder weniger innerhalb der eigenen Community – zwischen den immer gleichen Clubs, Kaffeehaus- und Wohnzimmerkonzerten sowie, wenn es hochkommt, der Main Stage am lokalen Open Air.
Das klingt und ist nicht glamourös. Wie viele Leute aber an diesem Leben trotzdem teilhaben wollen, zeigt sich auch in der Schweiz immer wieder. Für die «Demotape Clinic» etwa, einen Nachwuchswettbewerb des Migros-Kulturprozents,