Nochmal tanzen. Maja Peter. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Maja Peter
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783857919169
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Darf ich schreiben, dass es mir prächtig geht? Ich war heute Morgen alleine auf dem Markt und vertrödelte sicher eine Stunde mit einem Schwätzchen hier, Schwätzchen dort. Die Fischverkäuferin, die trotz 24 Grad eine Wollmütze trug, erzählte mir von ihrer Erkältung – sofern ich sie richtig verstand. Sie bot frische Flusskrebse an, von denen ich ihr ein paar abkaufte.

       Der Markt hat in der Früh etwas Rührendes. Die Kunden schlurfen in Pyjamas an den Ständen vorbei, auf den Wangen Babypuderkreise. Der Puder kühlt und pflegt die Haut bei der hohen Luftfeuchtigkeit, die wir hier haben. Pong und ich tragen ihn mit dem Pinsel auf, damit sich keine Kreise bilden. «Kauft hier, kauft hier», raunte es über den Platz. Kein Vergleich zum Geschrei am Mittag. Im gedeckten Teil, wo Fleisch, Fisch und Geflügel auf Metallbänken lagen, mischte sich das Klatschen der Stofffetzen, mit denen die Verkäufer die Fliegen von ihrer Ware vertrieben, unter das Raunen. Unterbrochen wurde es von lautem Klopfen, wenn einem Huhn der Schlegel oder einem Fisch der Kopf abgehackt wurde. Nach dem Krebskauf ließ ich mir vom Ananashändler eine halbe Frucht schälen und in Stücke schneiden. Es gibt kein besseres Frühstück.

      Für Pong kaufte ich Mandarinen. Nun, zuerst musste ich ein bisschen flirten. Lach nicht, Alice, ich flirte, um einen guten Preis auszuhandeln. Ich machte der Verkäuferin ein Kompliment für die Auslage, dann schwatzten wir über ihre Kinder. Schließlich sagte ich: «Ich kann jetztSchlangesagen.» Das glaube sie erst, wenn sie es höre, stichelte sie. Ich formte in der Kehle «Nguuu» mit Aufwärtston. Sie lachte und korrigierte, ich versuchte es erneut. Sie bot mir einen besseren Preis, als Pong ihn hätte erzielen können.

       Ich liebe dieses Spiel. Manchmal machen Pong und ich uns einen Spaß daraus, an einer Touristendestination zu beobachten, wie die Touristen feilschen. Die meisten haben keine Ahnung von den Preisen. Sie markten um zehn Baht und merken nicht, dass sie das Zehnfache bezahlen.

       Und, aufgeheitert? Ich muss nach vorne, es sind Kunden gekommen.

       Lass Dich umarmen.

       Martin

      Alice schaltet den Computer aus. Einkaufen ist eine gute Idee.

      3

      Lehrerin Wehrli rollt den Fernseher ins Schulzimmer. Ohne aufzusehen, sagt sie: «Michael und Cleophea, würden Sie bitte die Jalousien herunterlassen?» Die beiden stehen auf und ziehen an den Gurten, bis die Sonne ausgesperrt ist. Wehrli erläutert die Aufgabe: Den Gesprächsverlauf notieren und danach über eine der aufgeworfenen Fragen einen Aufsatz schreiben. Benotet wird beides.

      Fleur protokolliert: «Thema Sterbehilfe, Diskussionssendung mit TV-Moderator, Psychiater, Chefarzt, Leiter Sterbehilfeorganisation EX, reformierter Theologe, Modedesignerin». Sie schüttelt ihre Rechte und schreibt weiter. «Ich hatte noch nie einen Patienten, für den ich Selbstmord als Lösung in Betracht zog», sagt der Psychiater. Sie möchte einwenden, über Selbstmord entscheide nicht er, sondern der Patient, doch sie überhört, was der Leiter der Sterbehilfeorganisation entgegnet. Nicht denken jetzt, notieren. «Chefarzt: ‹dank neuster Medikamente müssen Todkranke nicht mehr leiden, deshalb lehne ich Suizidhilfe ab. Ich plädiere für Pali ... ›», Fleur schaut fragend zur Deutschlehrerin. Diese beugt sich über ein Heft. Fleur notiert: «Modedesignerin widerspricht. Ihr Partner habe drei Jahre im Spital gelegen, Lungenmaschine, Schmerzen trotz Morphium, Atemnot. Eine Qual, auch für sie. Deshalb sei sie der Sterbehilfeorganisation beigetreten. Sie wolle selber entscheiden, wann genug gelebt sei. Das sei ihr freier Wille. Der Theologe fällt ihr ins Wort. Den freien Willen gebe es nicht. Der Wille werde von der Gesellschaft beeinflusst. Die Freiheit sei Gott. Fleur denkt an den Brief in der Klosterkirche. Ein Gott, der straft, Gebote erlässt und Verzweifelte im Stich lässt, soll Freiheit bedeuten. Der Ex-Leiter sagt: «Jeden Tag bringen sich in der Schweiz vier Menschen um. Im Jahr sind das 1300 Menschen. Dazu kommen 6000, die versuchen, sich das Leben zu nehmen, und dabei scheitern. Viele dieser Versuche haben Behinderungen zur Folge.» Ihr fällt die Schülerin ein, die sich von der Schulterrasse im fünften Stock gestürzt hatte, als Fleur noch in der Probezeit war. Sie weiß nicht, warum die Schülerin sterben wollte. Der Druck sei zu groß, schrieb die Schülervertreterin damals in einem offenen Brief an den Rektor. Seither ist die Terrasse geschlossen.

      Fleur hat den Psychiater versäumt. Diesmal ist es ihr egal, die Männer wiederholen sich. Die Modedesignerin schweigt. Warum meldet sie sich nicht zu Wort, sie müsste doch widersprechen, jetzt, wo der Chefarzt sagt: «Wer sich umbringen will, kann das auch ohne EX tun.» Michael hat Fleur erzählt, den Lokführern werde in der Ausbildung beigebracht, zu hupen, wenn sich ein Selbstmörder auf dem Gleis befinde. Danach kehren sie der Fahrtrichtung den Rücken zu, um das Sterben nicht zu sehen. «Wie soll sich ein Zerebralgelähmter, der ohne Hilfe nicht einmal seine Blase leeren kann, das Leben nehmen?», fragt der Leiter von EX. Fleur horcht auf. Nicht einmal die Blase leeren. Grosi haben sie Windeln angezogen. Bei Fleurs letztem Besuch lag sie auf dem Rücken im Bett und hielt einen Teddy im rechten Arm. Mutter sagte: «Schau, Floriana hat sich Zeit genommen, dich zu besuchen!» Großmutter war die Einzige, die Fleur Floriana nennen durfte. Sie legte ihre Wange an den Bären und streifte Fleur mit den Augen. «Was will die», sagte sie. Fleur trat an die seitliche Bettkante. «Ich bins, Grosi.» Großmutter wandte das Gesicht ab. «Sie ist deine Enkelin», sagte Mutter. Großmutter presste den Teddy mit beiden Armen an sich, bis der Körper knackte. Fleur entfernte sich, betrachtete Grosi von der Tür aus. Das war nicht die Frau, mit der sie Kekse ausgestochen hatte. Die mehr Gedichte auswendig konnte als sie. Die «Lass meine Floriana in Ruhe» geschrien hatte, als Fleur, noch ein Kind, am See von einem Schwan angefaucht worden war. Wo ist sie hin?

      Großvater verschwand von einem Tag auf den anderen. Er verließ frisch pensioniert das Haus, um in der Badeanstalt einen Jass zu klopfen. Grosi habe er unter der Tür zugerufen, er komme nicht zum Mittagessen. In der Badeanstalt habe er die Karten verteilt und sei mit der Entschuldigung, er fühle sich schlecht, auf die Toilette gegangen. Als einer der Männer nach einer Weile nachsah, wo Großvater blieb, lag er tot in der Kabine. «Ein schöner Tod», sagte Mutter und weinte.

      Fleur überlegt, was sie im Aufsatz schreiben soll. Warum finden es die Experten am Fernsehen so schlimm, dass Menschen anderen helfen, sich schmerzlos zu töten? Sie findet es viel schlimmer, dass mehr als vier Menschen pro Tag das Leben nicht aushalten. Nicht mehr können. Wie M.S. und der Schüler, der sich vor den Zug warf, weil herausgekommen war, dass er Geld aus der Klassenkasse genommen hatte.

      Fleur schreibt «freier Wille» oben aufs Blatt. Dieser Theologe und das «Geschenk des Lebens». Ein Geschenk kann man ablehnen. Das Leben wird einem aufgezwungen. Die Eltern werfen einen in die Welt und erwarten erst noch Dankbarkeit dafür. Ist man einmal da, muss man aufstehen, essen, lernen. Jeden Tag aufstehen, essen, lernen. Nur Tote sind frei. Es müsste Geschenk des Todes heißen.

      Das kann sie nicht schreiben. Sie will nicht, dass die Deutschlehrerin ihre Gedanken liest.

      Alice setzt sich mit Zeichenstift und Papier in die Küche. Am Radio spielen die Berliner Philharmoniker eine Sonate von Chopin. Was soll sie zeichnen? Der Sprung in der Suppenschüssel fällt ihr ins Auge. Sie sollte die Schüssel nicht mehr verwenden. Nicht dass das letzte Erinnerungsstück an die Großmutter zerbricht. Sie zeichnet eine Frau mit Schürze, zu deren Füßen Scherben liegen. An der Tür klingelt es. Hat ein Nachbar den Schlüssel vergessen? Beim zweiten Mal fällt ihr ein, dass sie zum Kaffee eingeladen hat.

      «Bist du krank?», fragt Elsa zur Begrüßung und deutet mit dem Kopf auf Alice’ Trainerhose. «Nein, ich bin am Zeichnen. Kommt rein, ich ziehe mich schnell um.» Vom Schlafzimmer aus hört sie Susanne sagen: «Alice wird schrullig. Sie zeichnet zerbrochenes Geschirr.» Alice knöpft die Bluse zu und gesellt sich zu den Frauen. «Ich bin eigenwillig, schrullig sind Alte. Kaffee wie immer?» Sie nicken.

      Alice füllt den Kaffeefilter und legt Geschirr, Zucker, Milch und Butterherzen auf ein Tablett. Beim Auftragen hört sie Elsa «Hirnschlag» und Britt «Jesses» sagen. Elsa wiederholt für Alice: «Frau Hitz. Ihr Mann ist gestern Abend zu mir gekommen. Sie ist halbseitig gelähmt.» Alice versucht sich zu erinnern, wer Frau Hitz ist. «Die Frau mit den Blumenschals?» Elsa bejaht. Einen Moment lang ist nur das Blubbern des Kaffees