Nach unserem Rundgang war ich natürlich beeindruckt von den Arbeitsbedingungen und fragte den Kadermenschen, ob denn die Fluktuation von Arbeitskräften nicht enorm wäre in einem solchen Betrieb, schließlich konnte keiner gezwungen werden, unter solchen Bedingungen zu arbeiten. Arbeitsplätze gab es genug, und wenn einem der Betrieb nicht passte, suchte er sich einen anderen. Die Antwort fiel jedoch überraschend aus. Der Kollege meinte, wer nach 14 Tagen nicht gegangen wäre, der bliebe meist sehr lange. Fast 80 Prozent der Belegschaft wären seit vielen Jahren im Betrieb, was auch die Arbeitskollektive sehr stabil machte.
Was genau er damit meinte, sollte ich während der nächsten Wochen erfahren. Wir empfingen unsere Arbeitsklamotten, die man nach einer Woche tauschen konnte, bekamen die Umkleide- und Duschräume gezeigt und wurden den Abteilungen zugeteilt. Ich kam in die »Kleinkohle«.
Am nächsten Morgen schrillte mein Wecker um dreiviertel fünf. Für einen Studenten eine unchristliche Zeit. Um halb sechs stand ich vor meinem Spind im Betrieb und hievte mich in die Arbeitsklamotten. Pünktlich um sechs (besser fünf Minuten vorher) meldete ich mich beim Meister in der Kleinkohle. Der begleitete mich an die Stirnseite der Halle zu meinen neuen Kollegen. Nach einer zurückhaltenden Begrüßung erklärten sie mir, was ich zu tun hätte. Es war glutheiß, staubig und laut. Aber ich war neugierig und so hörte ich zu und sah mich um.
Die Kollegen brachten mich zu einer großen Schleifmaschine. Links neben der Maschine stand ein Rollwagen, auf dem kleine Schleifkohlen lagen. Nun, klein war relativ, die Dinger hatten die Form einer Zigarrenschachtel, waren aber doppelt so groß, dafür etwas schmaler. An ihnen haftete jede Menge körniger Kohlengruß. Beim Brennen in den Öfen blieb der an den Kohlen hängen, mal mehr, mal weniger fest. Meine Aufgabe sei es, erklärte mir einer der Stammarbeiter, den Kohlengruß von den Kohlen abzuschleifen und diese dann auf einem Wagen rechts der Maschine zu stapeln. Als ein Kollege es vormachte, sah es nicht schwer aus und ging ruckzuck. Kohle nehmen, längs über die Schleifscheibe schieben, Vierteldrehung, zurück, wieder Vierteldrehung usw. Danach noch die Stirn- und Rückseite und fertig.
Nun war ich an der Reihe. Die erste Überraschung war, dass das Kohlenstück schwer wog, um die 1,3 Kilogramm. Mit den Schutzhandschuhen, die man wegen der Schleifscheibe tragen musste, war das Handling auch nicht einfach. Und es dauerte bei mir, so ein Stück an der Schleifscheibe hin und her zu schieben. Gott, was stellte ich mich ungeschickt an. »Nur Geduld«, riet mir mein Kollege, »und übe.«
Doch wenn ich rechts und links von mir sah, wie die »richtigen« Arbeiter das schafften, packten mich eher Ungeduld und Verzweiflung. Nach einer Stunde war ich ziemlich fertig, nach zwei Stunden hatte ich die Handschuhe »durchgeschliffen« und war mit der Haut über die Schleifscheibe geschrammt. Ein bisschen Blut, nichts, was ein Pflaster nicht richten konnte. Zwischendurch trank ich Unmengen des vom Betrieb zur Verfügung gestellten Hitzegetränks, eine Art Mineralwasser mit Salzgeschmack. Es sollte die ausgeschwitzten Mineralstoffe wieder in den Körper spülen.
Zu Schichtende um halb drei war ich körperlich völlig herunter und hatte einen Tag mit Blut, Schweiß und Tränen hinter mir, weil nichts hatte klappen wollen. Ab ins Wohnheim. Die Flasche Sanddornsaft, die es auch kostenlos gab, wurde im Verhältnis eins zu eins mit Wodka verdünnt, zusammen mit einem Kumpel geleert, und dann ging es im Hellen ins Bett, schließlich würde der Wecker wieder um 4.45 Uhr klingeln.
Arbeiterinnen bei der Pause in einer Produktionshalle des VEB Elektrokohle Lichtenberg (1985) (picture alliance / ZB / Wilfried Glienke)
Als ich mich am nächsten Morgen vor dem Umkleideschrank des Betriebs in die noch klammen Klamotten quälte, war ich noch angeschlagen. An die Maschine! Kohle für Kohle schleifen, schleifen, schleifen. Ich kam nicht einmal dazu, über die Arbeit nachzudenken, und über die Leute, die sie tagein, tagaus verrichten.
In der Pause fragte ich immerhin meinen Kollegen, wie viele Kohlen ich eigentlich in einer Schicht schaffen müsse. Die Norm wäre 800 Stück, erklärte dieser, das wäre gut zu schaffen, wenn es einem einigermaßen von der Hand ginge. Um optimal verdienen zu können, sollten 110, maximal 115 Prozent der Norm erreicht werden. Dann gäbe es Zuschläge. Jedoch niemals mehr als 120 Prozent. Das würde auf Dauer nur zu einer Normerhöhung führen und dann wäre es mit dem schönen Zusatzverdienst vorbei … O weh, ich hatte am ersten Tag um die 200 Kohlen geschafft, und es sah nicht so aus, als ob es an den nächsten Tagen mehr würden, wenn ich auch noch auf meine Finger über der Schleifscheibe achten wollte.
Doch ich sollte mich irren. Mehr und mehr gewöhnte ich mich an die Bedingungen und meine Bewegungen wurden routinierter, obwohl ich selten über 500 bis 600 Kohlen pro Schicht hinauskam. Von Tag zu Tag lernte ich auch das gute Essensangebot der Betriebsküche zu schätzen und nahm zunehmend an den Pausengesprächen der Kollegen teil. Trotz Unterschieden im Alter, in der Konstitution und in den Interessen besaßen sie untereinander viele Ähnlichkeiten. Sie verrichteten alle täglich dieselbe Arbeit, die meisten bereits jahrelang. Es wechselte nur die Größe der zu schleifenden Kohlen, und alle paar Wochen erteilte der Meister Sonderaufträge. Das hieß meist in anderen Bereichen aushelfen.
Solidaritätsaktion im Kulturhaus des VEB Elektrokohle Lichtenberg (BArch Bild 183-F1212-0034-001 / Hein Junge)
Natürlich war ich neugierig, wie man die schwere Arbeit längerfristig leisten konnte. Da war zuallererst das Geld. Die Entlohnung im VEB Elektrokohle Lichtenberg für eine Tätigkeit ohne Vorqualifikation war sehr gut. Mit einer 110-prozentigen Normerfüllung und den Zulagen konnte man an die 1.000 Mark im Monat verdienen, jedenfalls mehr als die Ingenieure, wie meine Kollegen mir grinsend berichteten. Und der Betrieb kümmerte sich um seine Werktätigen. Eine neue Wohnung wurde einem schneller als anderswo zugeteilt, die Sozialleistungen stimmten, und wenn man ein Anliegen hatte, ging man zur Gewerkschaft oder Partei und haute auf den Tisch, so dass Lösungen gefunden wurden.
Aber die Arbeiter wussten auch, dass gute und schnelle Arbeitserfüllung die Voraussetzung dafür war. Das bedeutete, dass jeder, der in die Brigade hineinkam, ein paar Tage Zeit hatte, sich einzugewöhnen. Dann musste Leistung erbracht werden. Man hatte so seine Möglichkeiten, unwillige Kollegen zu disziplinieren, schließlich fiel schlechte Arbeit auf alle zurück! Es wäre aber in den letzten Jahren kaum nötig gewesen, wer kam, begriff schnell, wie der Hase lief. Als Student bräuchte ich mich nicht zu sorgen, von solchen wie uns könne man keine allzu schwere Arbeit verlangen, ich solle einfach machen – aber nicht faulenzen! Auch gab es öfter Aufregung über die Leitung, das schloss vom Meister bis zum Betriebsdirektor alle Vorgesetzten ein, die es nicht immer schaffe, alle Dinge so zu organisieren, dass die Arbeit reibungslos vonstattenginge. Ja, es war ihre Arbeit, ihr Betrieb.
Das war das Geheimnis der geringen Fluktuation. Die Arbeit war schwer, schmutzig, gleichförmig und auf den ersten Blick primitiv. Extreme Arbeitsbedingungen. Sie erforderte zudem Kraft, Ausdauer, Geschick und Durchhaltevermögen, man musste ein ganzer »Kerl« sein, um das hinzubekommen. Daran schied sich nach Auffassung der Kollegen die Spreu vom Weizen.
Und noch etwas lernte ich in den Wochen der Hitze bei meinen Kollegen im EKL. An den ersten Feierabenden dachte ich, wie soll das funktionieren mit der Arbeiterklasse als führender Klasse, wenn es nur um Schuften, Essen und Saufen geht. Doch es gab ein Leben nach der Arbeit. Ich lernte, dass auch einfache Lebensentwürfe zum Glück führen können. Frau, Kinder, schöne Neubauwohnung, vielleicht eine Datsche, ein kaltes Bier und in den Ferien an die Ostsee. Das konnte Glück sein, jeder hat seinen eigenen kleinen Glücksanspruch. Natürlich waren nicht alle so unkompliziert. Sie wussten genau um den Zusammenhang von eigener Arbeit und den Veränderungen um sie herum, die es ermöglichten, ihren Lebensentwurf selbstbestimmt zu verfolgen.
So habe ich in den vier Wochen nicht nur über 800 Mark verdient, sondern auch viel über mich und über Menschen in anderen Lebenswelten gelernt. Ein sehr gelungenes Praxissemester für einen Philosophiestudenten.
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