Anders Wirtschaften - Gespräche mit Leuten, die es versuchen. Группа авторов. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

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Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Изобразительное искусство, фотография
Год издания: 0
isbn: 9783037600368
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Form des Wirtschaftens. Die präsentierten Beispiele sind somit Gehversuche in Richtung einer postkapitalistischen Gesellschaft, die unseren Möglichkeitssinn schulen. Darin liegt ihr utopischer Gehalt.

      Die Alltagspraxis schränkt den Möglichkeitsraum dieser Utopien in manchen Fällen rasch wieder ein, wie die Gespräche zeigen. Die Unterschiede in der Umsetzung der Zeitvorsorge in St. Gallen und Obwalden, aber auch die Geschichte von AutoTeilet/Mobility, lassen erkennen, dass mit der Institutionalisierung solidarischer Praxis auch die Routinen der Marktwirtschaft wie Buchhaltung, Bilanzen und Kontraktrecht Einzug halten. Die berechenbare Praxis liquidierender Transaktionen setzt sich gegenüber der informellen Praxis nichtliquidierender Transaktionen tendenziell durch. In Obwalden halten die Initiantinnen daran fest, für die geleisteten Stunden keine Sicherheit zu hinterlegen, also das Risiko einzugehen, dass jene, die heute helfen, morgen vielleicht nichts zurückbekommen, dass ihre Transaktionen letztlich nichtliquidierend sein können. In St. Gallen geht man dieses Risiko nicht ein. Die Stadt hinterlegt die geleisteten Stunden mit Geld, mit dem notfalls zukünftige Gegenleistungen eingekauft werden – und beschränkt aus diesem Grund die Anzahl Stunden, die in der Zeitvorsorge individuell angespart werden kann. Die Kommune Niederkaufungen und die Bewohnergruppe des Pappelhofs gehen am weitesten in ihren Anstrengungen, nichtliquidierende Transaktionen zu praktizieren. Sie haben das Gebot: «Du sollst nicht zählen»6 am stärksten verinnerlicht. Doch auch sie sind Kinder der Geldwirtschaft: In ihren Erzählungen manifestiert sich der in unserer Gesellschaft tief verankerte individualistische Habitus, der nach Georg Simmel nur in der Geldwirtschaft entstehen konnte.7

      Aber gerade deshalb sind die vorgestellten Formen des Anders-Wirtschaftens Utopien: Sie versuchen durch ihre Praxis etwas herbeizuführen, das noch nicht möglich ist.

       Der Aufbau und die Autoren des Bandes

      Die fünf Fallbeispiele werden in Form von Interviews vorgestellt. Den Gesprächen ist eine Selbstdarstellung der jeweiligen Organisation voran- und ein abschliessender Kommentar nachgestellt. Eingeleitet werden die fünf Fälle mit einem Essay von Eske Bockelmann.

      Für die Gespräche sind sowohl die Interviewer als auch die Interviewten als Autorinnen und Autoren aufgeführt. Denn alle teilen das – bei den einen eher praktische, bei den anderen eher theoretische – Interesse am Thema und wollen mit der Publikation der Gespräche zur öffentlichen Debatte über Alternativen zum Kapitalismus neoliberaler Ausprägung beitragen. Eske Bockelmann mit «Im Takt des Geldes»8 und Aldo Haesler mit «Das letzte Tabu – Ruchlose Gedanken aus der Intimsphäre des Geldes» sowie «Angst und Spiele – Monetäre Dynamiken in der ‹harten› Moderne»9 gehören zu den provokativsten und tiefschürfendsten Kritikern der heutigen Geldwirtschaft. Ulrike Knobloch und Eva Lang sind Kritikerinnen des tendenziellen Ausschlusses der Sorgeökonomie bzw. vorsorgenden Wirtschaft aus der formellen Wirtschaft10. Dieser Ausschluss droht sich im Zeitbankensystem zu wiederholen, schreibt Ulrike Knobloch in ihrem Kommentar zur Zeitvorsorge in St. Gallen und Obwalden. Theo Wehner hat in zahlreichen Beiträgen zur freigemeinnützigen Arbeit die Motivationen und sozialen Beziehungen, die mit dieser Form des Anders-Wirtschaftens einhergehen, untersucht. Sigrun Preissing hat den Pappelhof im Rahmen ihrer Dissertation über alternativ-ökonomische Projekte11 erforscht und aus ihrem umfangreichen Interviewmaterial eine dichte Collage zusammengestellt. Heinzpeter Znoj hat wie oben erwähnt die Unterscheidung zwischen liquidierenden und nichtliquidierenden Transaktionen in die ökonomische Anthropologie eingeführt.

      Diese Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler stellen in den Gesprächen die Fragen beziehungsweise kommentieren sie abschliessend. Die Antworten geben Praktiker und soziale Entrepreneure, die selbst an Aufbau und Praxis der «anderen Wirtschaftsformen» beteiligt waren oder sind. Gernot Jochum-Müller ist ein bekannter Pionier auf dem Gebiet der Lokalwährungen und wirkte für die Zeitvorsorge St. Gallen als Berater. Conrad Wagner war Mitbegründer und Spiritus Rector von AutoTeilet, aus der später Mobility hervorging. Gottfried Schubert ist ein ehemaliger Kommunarde der Kommune Niederkaufungen und Experte für gemeinsame Ökonomien. Franziska, Gerda, Timo und Doro sind die Pseudonyme von Mitgliedern der Bewohnergruppe beziehungsweise des Netzwerkes «Bedürfnisorientierte Produktion» des Pappelhofs. Heidi Lehner ist Geschäftsführerin der Sunflower Foundation und leitet deren Komplementärgeldprojekte. Sie ist unter anderem als Beraterin für die Zeitvorsorge Obwalden tätig.

      Die Idee zu diesem Band und die Gespräche über die Kommune Niederkaufungen und die Zeitvorsorgen in St. Gallen und Obwalden sind im Rahmen von Tagungen der Sunflower Stiftung entstanden. Stiftungseigner Jürg Conzett und Heidi Lehner haben mit Umsicht die hier vertretene Gruppe von Autorinnen und Autoren versammelt und zu Diskussionen eingeladen, die nach einigen Jahren Früchte zu tragen beginnen. Dieser Band ist ein Resultat davon und weitere werden hoffentlich folgen. Den beiden Initianten der Sunflower-Gespräche sei an dieser Stelle für ihr grosses Engagement und ihre geduldige Unterstützung gedankt.

      1 Die Chartalisten vertraten die Auffassung, dass Geld seine Funktionen allein aufgrund der sozialen Akzeptanz innerhalb einer Zahlungsgemeinschaft erhält. Im Gegensatz dazu vertraten die Metallisten die Auffassung, dass die Funktionen des Geldes ursprünglich aus der allgemeinen Begehrtheit der edlen Metalle hervorgingen. Vergleiche Knapp, Georg Friedrich, 1905, Staatliche Theorie des Geldes. München: Duncker & Humblot.

      2 Ich habe die analytische Unterscheidung zwischen liquidierenden und nichtliquidierenden Transaktionen andernorts ausführlich begründet: Znoj, Heinzpeter, 1995, Tausch und Geld in Zentralsumatra. Zur Kritik des Schuldbegriffes in der Wirtschaftsethnologie. Berlin: Reimer.

      3 Polanyi, Karl, 1990 [1944], The Great Transformation. Politische und ökonomische Ursprünge von Gesellschaften und Wirtschaftssystemen. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.

      4 Mauss, Marcel, 1989 [1925], Die Gabe. Form und Funktion des Austausches in archaischen Gesellschaften. Frankfurt a.M.: Fischer.

      5 Musil, Robert, 1978, Der Mann ohne Eigenschaften. Hamburg: Rowohlt.

      6 Callon, Michel und Bruno Latour, 1997, «Tu ne calculeras pas!» ou comment symétriser le don et le capital. Revue du Mauss 9:45–70.

      7 Simmel, Georg, 1900, Philosophie des Geldes. Leipzig: Duncker & Humblot.

      8 Bockelmann, Eske, 2004, Im Takt des Geldes. Zur Genese modernen Denkens. Springe: Zu Klampen.

      9 Haesler, Aldo, 2011, Das letzte Tabu – Ruchlose Gedanken aus der Intimsphäre des Geldes. Frauenfeld, Stuttgart, Wien: Huber Verlag. Ders. (in Vorbereitung), Angst und Spiele – Monetäre Dynamiken in der «harten» Moderne.

      10 Vergleiche z.B. Knobloch, Ulrike, 2009, «Sorgeökonomie als allgemeine Wirtschaftstheorie». In: Olympe. Feministische Arbeitshefte zur Politik 30:27–36. Lang, Eva und Theresia Wintergerst, 2011, Am Puls des langen Lebens. Soziale Innovationen für die alternde Gesellschaft. München: oekom verlag.

      11 Preissing, Sigrun, 2014, Beitragen und Tauschen. Transaktionsmodi, Wert(e), Personenvorstellungen sowie Beziehungen zwischen Mensch und Mitwelt in alternativökonomischer Praxis. Dissertation: Universität Halle-Wittenberg.

       Das Problem mit dem Geld

      Eske Bockelmann

      Gibt es ein Problem mit dem Geld? Nun, wenn es ein solches Problem im Singular gäbe, dann könnte es nur heissen: Es gibt zu wenig davon. Geld fehlt an allen Ecken und Enden, endlos reihen sich die Probleme, die sich auf den einen Nenner bringen liessen: Es müsste Geld her, dann gäbe es sie nicht. Weil es an Geld mangelt, fehlt hier trinkbares Wasser und können dort Kinder zum Schuften gezwungen werden. Weil es an Geld mangelt, werden Theater geschlossen, wird die Belegschaft von Krankenhäusern ausgedünnt, müssen Lehrer vor übergrossen Klassen stehen, arbeiten sich entsprechend diejenigen, die für ihre Arbeit bezahlt werden, massenweise zuschanden und vergammeln zahllose andere ohne bezahlte Arbeit im ärmlichen Zuhause, müssen Tiere auf die grauenvollste Weise gehalten werden, auf dass sich auch finanziell ausgedünnte Menschen ihr Fleisch leisten können, muss das Klima für Naturkatastrophen