Die Tyrannei des Geldes. Hans Peter Treichler. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Hans Peter Treichler
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Социология
Год издания: 0
isbn: 9783037600115
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die Goldstücke schwitzen zu lassen, vorne dranzubleiben im Spiel von Kauf und Verkauf, Hausse und Baisse, Terminkauf und freiem Kauf – puuuh!» Die wachsenden Umsätze der Börse zeugten von der Faszination des neuen Instituts, aber auch die zahlreichen Konkurse und Insolvenzerklärungen, Selbstmorde und Skandale. Davon blieb selbst die Banque Générale Suisse nicht verschont. Unter Bürgermeister James Fazy 1853 eröffnet, war sie mit 25 Millionen Gründungskapital für damalige Verhältnisse ein Big Player, engagierte sich für den Bau eines Kanals durch Panama und bei der Bahngesellschaft Chemins de fer de l’Ouest, beide Male mit grossen Verlusten. Nach dreizehn Jahren ging sie in Konkurs. Fazy verlor sein gesamtes Vermögen; zahlreiche Anleger erlitten schwere Einbussen. «La ruine est facile pour les châteaux de cartes», kommentierte Amiel; Kartenhäuser stürzen leicht zusammen.

      Was er «Plutolatrie» nannte, die Verehrung oder Anbetung des Geldes, war für ihn auf heillose Weise verknüpft mit den Vereinigten Staaten, mit dem dort herrschenden Ideal des selfmade man. Obwohl überzeugter Anhänger des republikanischen Prinzips, stand Amiel den demokratischen Idealen der absoluten Gleichberechtigung skeptisch gegenüber. «Wenn es einmal nur noch gleichberechtigte Einzelwesen geben wird, ohne Unterschied zwischen jung und alt, zwischen Mann und Frau, Empfängern und Wohltätern, wird der gesellschaftliche Unterschied allein vom Geld ausgehen.» La différence sociale se fera par l’écu.

      So wie seine Stellung in der Gesellschaft auf schwankendem Grund ruhte, war Amiel ein nachlässiger Verwalter der eigenen Einkünfte und seines Vermögens. «Diese ganzen Budgetangelegenheiten langweilen mich», meldet das Tagebuch jeweils zu Jahresbeginn, «und ich gestehe zu meiner Schande, dass ich die Flinte ins Korn geworfen und meine Konten das ganze Jahr nicht nachgeführt habe.» «Ich weiss nicht, was ich genau eingenommen habe», heisst es an anderem Ort, «und was ich berechtigterweise ausgeben darf – kurz: meine Geschäfte stehen Kopf und es ist möglich, dass meine Befürchtungen lächerlich sind oder meine Hoffnungen verstiegen.» Und weshalb fehlte ihm «der Instinkt für das Eigentum, das Beherrschen und Besitzergreifen»? Hatte dieser Mangel zu tun mit dem Schicksal seines Vaters? Jean-Henri Amiel hatte sich während Jahren aufgerieben im Kampf um die Erbschaft seiner Gattin, in einem zermürbenden Rechtsstreit mit Vorladungen, Urteilen, Anfechtungen und gehässigen Anschuldigungen. Der Vater, ein Kaufmann, war seinem Instinkt gefolgt, hatte gekämpft. Aber stand es denn einem Philosophen, einem homme d’esprit wie Amiel junior, an, sich in die Niederungen des Feilschens und Prozentrechnens zu begeben oder sich mit seinem Arbeitgeber über die Höhe des Salärs zu streiten?

      Auch das sind Fragen, auf welche die folgenden Kapitel eingehen: die Stellung des Literaten in Staat und Wirtschaft, die Psychologie des Geldes ganz allgemein, über die das Tagebuch bemerkenswerte Einsichten liefert. In seiner Gesamtheit bietet das Journal intime Stoff für eine Art Ökobiografie, den finanziellen Lebenslauf eines Einzelnen. Darüber hinaus offeriert es viele Einblicke in die Besitz- und Erwerbsmentalität einer Epoche, die der heutigen in vieler Hinsicht gleicht.

      Wie müssen wir uns den äusseren Rahmen vorstellen, in dem dieses Leben abläuft? Spielt die «Tyrannei des Geldes», die der Eingangstext anspricht, darin eine Rolle? Und hält sich der Autor selbst an die Einsichten und Maximen, die seinen Namen weltweit bekanntmachten? Sein Alltag in den Jahren ab 1850 folgt jedenfalls einem geordneten Rhythmus mit Vorlesungen, meist an drei Wochentagen, mit Prüfungen und Benoten von Semesterarbeiten. Gelegentlich übernimmt Amiel eine Vortragsreihe bei den öffentlichen Veranstaltungen im Hôtel de Ville, einer Art Volkshochschule. Aber hier wie dort wird erwartet, dass der Redner frei spricht, weder auf Notizen schaut noch gar vom fertig formulierten Script abliest. Das erschwert Amiel die Aufgabe ungemein. Nur im privaten Kreis kann er im Gespräch überzeugen und mitreissen. Vor Publikum fühlt er sich unsicher und gehemmt. «Dreissig Ideen genügen mir nicht, um eine Stunde zu füllen», heisst es so oder ähnlich immer wieder, «so wenig weiss ich meine Exposition zu entwickeln, auszufüllen und zu polstern. Auch stelle ich fest, dass ich überhaupt nichts zu meiner intellektuellen Verfügung habe, keine Manövriermasse, keinen Grundstock.»

      Der Sommerurlaub führt Amiel gelegentlich ins Ausland, 1851 beispielsweise an die Weltausstellung in London, meist aber in die Gegend rund um Montreux, die er über alles liebt. Hier läuft er im ungezwungenen Kreis der Pensionsgäste gelegentlich zu grosser Form auf, trägt an regnerischen Nachmittagen ganze Bühnenstücke vor, gibt au vol, aus dem Stand, jeder Rolle ihre eigene Stimme. Manche Gäste sind den Tränen nahe und vergleichen ihn mit den besten Vorlesern auf Europas Bühnen, stellen ihn noch über den berühmten Mimen Eduard Devrient.

      Ein vielseitiger Mann – wenn man ihn lässt. Aber der Alltag in Genf kennt kaum solche Sternstunden. Wenn nach der Vorlesung ein Student mit einer Frage an der Tür zum Hörsaal wartet, wird dieser kleine Erfolg bereits im Tagebuch vermerkt. Nach der Verheiratung seiner Schwester Fanny mit Pastor Franki Guillermet, einem hageren Geistlichen, schliesst sich Amiel der Familie an, als eine Art Pensionär. 1859 zieht der Haushalt in eine geräumige Stadtwohnung an der Cour Saint-Pierre, dem Kathedralenplatz im Herzen der Stadt. Amiel übernimmt zwei Mansardenzimmer, stattet sie aus mit seiner umfangreichen Bibliothek von 2500 Bänden. Das ist alles idyllisch, gemütlich, mit knisterndem Kaminfeuer und dem Blick über die Dächer der Altstadt – aber kein Raum zum Vorzeigen. Stattet ihm ein auswärtiger Student seine Antrittsvisite ab, muss er ihn im Salon von Fanny und Franki empfangen. Hier ist womöglich nicht aufgeräumt, brennt kein Feuer im Kamin ... ein unbefriedigender Zustand!

      Auf die Dauer lässt sich der gemeinsame Haushalt mit der Pfarrersfamilie nicht aufrechterhalten: «Zehn Jahre haben den Vorrat an gutem Willen aufgebraucht, und ich sollte auf eigenen Füssen stehen.» 1869 – als 48-Jähriger – bezieht Amiel erstmals eine eigene Wohnung. In die gleiche Zeit fällt sein erster und letzter ernsthafter Versuch, eine Familie zu gründen; er verlobt sich mit der Pastorentochter Anna Droin. Aber nach wenigen Wochen geben sich die beiden ihre Briefe und Geschenke zurück. Zu unterschiedlich sind die Erwartungen: Amiel hat die stille Art der Verlobten als Tiefsinn und Abgeklärtheit interpretiert, Anna ihrerseits fühlt sich vom Anspruch auf gehaltvolle Gespräche und Briefe völlig überfordert.

      Es bleibt ein Kreis anteilnehmender und bewundernder Freundinnen, von Aussenstehenden als les amiélines belächelt. Man trifft sich im Sommer und Herbst in den Kurorten am Léman zu gemeinsamen Ausflügen und Gesprächen, man wechselt Briefe. Als besondere Gunstbezeugung wertet es der Musenzirkel, wenn eine der Anhängerinnen ein Heft des Journal intime ausgeliehen erhält. Besonders die Lehrerin Fanny Mercier ist von der überragenden literarischen Bedeutung des Tagebuchs überzeugt. Sie ist es denn auch, die eine Auswahl markanter Passagen und Merksprüche zusammenstellt und nach Paris übermittelt, dies in den Monaten nach Amiels Tod. Denn in den späten 1870er-Jahren verschlechtert sich seine Gesundheit zusehends: Atemnot, Hustenkrämpfe, allgemeine Schwäche. Die Vorlesungen, an denen er bis Februar 1881 festhält, erschöpfen ihn immer mehr. Die letzten Monate verbringt er, kaum je das Haus verlassend, in der Pension von Berthe Vadier, einer weiteren Freundin, die er ma filleule nennt – seine Patentochter. Sie und ihre Mutter pflegen ihn aufopfernd; der letzte Eintrag im Journal ist denn auch ein Dank an ihre Hingabe. Er stammt vom 29. April; zehn Tage später stirbt Amiel. Das Krankenzimmer ist vollgestellt mit Blumen, Dosen voll Konfekt und anderen Geschenken, die in den letzten Wochen eingetroffen sind – «von Freunden, die zum Teil weit entfernt wohnen», wie er verwundert feststellt.

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      In keiner anderen Epoche verändert sich das Stadtbild von Genf so radikal wie in den Jahren um 1850. Die Stadt öffnet sich zum See; es entstehen grosszügige Quaianlagen und Strassenblocks mit Hotels und Kaufhäusern. Sie besetzen den Platz, den zuvor die seit langem unnütz gewordenen Befestigungsanlagen eingenommen haben.

      KAPITEL 2

      Genf – die magischen Jahre

       Genève devient de plus en plus la ville neutre et cosmopolite où se débattent tous les grands procès d’idées et où se commencent les institutions humaines.

      Genf wird mehr und mehr zur neutralen und kosmopolitischen Stadt, wo sich die grossen