Verbannte
Schmerzliche Erinnerungen, Gedanken, Gefühle und Körpergefühle, die so sehr schmerzhaft erlebt wurden, dass ihre Beschützer sie unter allen Bedingungen aus dem System dieses Menschen fernhalten wollen, werden mitsamt ihren Lasten und den dazugehörigen Persönlichkeitsanteilen in die Verbannung geschickt. In jeder Familie, Gesellschaft, Kultur und Religion werden Anteile eines Menschen nicht akzeptiert und entwertet, sodass diese – zum Beispiel aus sozialer Anpassung, der Angst vor Bestrafung, Ausgrenzung u.v.a.m. – ins Exil geschickt werden »müssen«. Auch als Frau, als Mann oder intergeschlechtliches Wesen dürfen in den jeweiligen Gesellschaften mehr oder weniger Anteile gelebt oder müssen weggesperrt werden. Das volle Potenzial unserer weiblichen, männlichen, sexuellen Anteile zu integrieren ist wie ein großes Geschenk in der Freiheit. Bei traumatischen, dramatischen Lebensereignissen werden Verletzungen, Entwürdigungen, seelische und körperliche Schmerzen erlebt, was verstörend und belastend wirkt und das ganze innere System in Aufruhr bringt. Teile, die traumatisiert wurden, werden oft vom Rest des Systems isoliert. In diesem Feld sind besonders die Beschützer aktiv, um diese schlimmen Gefühle vom Bewusstsein zu verdrängen oder abzuspalten und das Selbst zu schützen. Sie sind um fast jeden Preis darum bemüht, dass diese schlimmen Gefühle nie wieder erlebt werden. Aber auch die Verbannten werden bei extremer Verletzung und Belastung verzweifelt und darum heftig bestrebt und drängend aktiv sein, Gehör, Verständnis und Entlastung zu finden; sie wollen nicht ausgeschlossen sein und sie wollen auch nicht in ihrer Verbannungskiste ihr Dasein fristen. Wenn wir, vor allem in der Kindheit und Jugend, aber auch im Erwachsenenalter, in unseren sensibelsten, zartesten, spielerischen und unschuldigsten, unseren spontanen, kreativen, sexuellen Anteilen verletzt werden, Entwertungen oder Kränkungen erfahren, dann gibt es Bestrebungen (Beschützer) in uns, diese alle aus unseren Erinnerungen zu streichen, in den Keller unseres Bewusstseins – in die Verbannung – zu verdrängen. Wir (das heißt Beschützerteile von uns, die glauben, sie seien wir selbst) schließen verletzte Teile weg, von denen unsere Beschützer glauben, sie seien verantwortlich für das damalige Geschehen, sie würden uns schaden, wir oder die Menschen um uns herum würden sie nicht ertragen oder sie würden uns überfluten. Wie andere Menschen um uns herum vielleicht auch raten diese Beschützer: Vergiss es, Vergangenes kannst du nicht ändern, Schwamm drüber, schau nach vorn. Unangenehmes wegzusperren ist eine erprobte Überlebensstrategie, in manchen Situationen durchaus hilfreich für den Augenblick.
Therapeuten fallen hier natürlich alle möglichen Abwehrmechanismen ein. Die Identifikation mit dem Aggressor und die Wendung gegen das Selbst zeigen besonders plastisch, wie die Teile in uns agieren. Was im eigenen Erleben oder Verhalten in Familie, Kultur, Gesellschaft oder Religion von den Eltern oder der Institution entwertet wurde oder keine Akzeptanz fand, wird von den Kindern beziehungsweise ihren Beschützerteilen in Identifikation mit den Eltern, den Autoritätspersonen oder der Institution (in diesem Falle mit dem Aggressor) in die eigene Abwertung übernommen. Diese klugen Teile entwickeln sich, weil die Kinder in Abhängigkeit von den Eltern noch nicht zu eigenen Wünschen und Strebungen stehen können und sie in ihrer Existenz auf das Wohlwollen und die Anerkennung der Eltern angewiesen sind. In jungen Jahren ist das Selbst noch nicht so stark, dass es ständige Ablehnung, Bestrafung oder Entwertung der Eltern ertragen könnte. Hier entwickeln sich also angepasste Teile, die sich in Identifikation mit den Eltern gegen das Selbst wenden. Sie sind überzeugt, dass nur ihre Strategie ihrem Menschen Kummer und Sorgen ersparen wird. Sie machen in Identifikation mit den Eltern oder einem Aggressor die verletzen Teile für den Konflikt, das Drama, das Trauma verantwortlich. »Du bist selbst dran schuld, du bist schlimm, schlecht, eklig, nichts wert, du bist zu dick, zu dünn, zu hübsch, zu hässlich etc.«. Diese ganzen Überzeugungen und Glaubenssätze mit den dazugehörigen Gefühlen, Gedanken und (Körper-)Empfindungen hängen als Last auf dem Verbannten. Aber um diesen Preis bleibt das innere und äußere System stabil – zunächst. Das Kind hat in seinem System »logische« Zusammenhänge für das schlimme Geschehen gefunden. Sehen die verzweifelten Verbannten dieses Menschen jedoch irgendwie die Möglichkeit, sich aus dem Keller der Verbannung zu befreien, drängen sie ans Licht und drohen damit, das ganze System zu überrollen, was alle Beschützer natürlich verstärkt auf den Plan ruft und in ihren Augen ihre Daseinsberechtigung zementiert. Wer kennt das nicht als Therapeutin – die Erstverschlimmerung nach Öffnung der Klienten und ihrer Geschichte, Rückschritte nach Therapieerfolgen, regressive Wünsche verhindern die Bewältigung des Alltags, Intrusionen bei posttraumatischen Belastungsstörungen mit Überflutungen des Systems und entsprechenden »Gegenmaßnahmen« der Manager und Feuerbekämpfer (depressive Stimmungen, Ängste, Selbstverletzungen, Dissoziationen, Suizidalität, Verstärkung der Süchte u. a. m.) Allesamt »altbewährte« Muster. Verbannte werden umso heftiger, je extremer die Situation war, in der sie ins Exil geschickt wurden. Sie tragen die vom Bewusstsein abgespaltenen schmerzhaften Gefühle, Überzeugungen und Lasten der Verletzungen, die oftmals verleiblicht sind. Sie werden umso drängender und verzweifelter, weil sie gehört, geheilt und integriert werden wollen.
Manager
Manager sind die Beschützer des Systems. Sie tun alles, um das Individuum vor Schmerz und Ablehnung zu bewahren, sodass die Person in jeder Beziehung und Situation die Kontrolle behalten kann. Nie wieder soll ihr Mensch Gefühle von Zurückweisung oder Erniedrigung spüren. Dies erreichen sie durch ein unbewusstes, ausgeklügeltes System des Zusammenspiels mehrerer Teile. Sie können auch (zunächst) absolut nichts Positives darin sehen, dass in einer Psychotherapie die Aufarbeitung der persönlichen Geschichte geschehen soll. Sie möchten die alten Sachen lieber ruhen lassen, wehren sich heftig dagegen (Widerstände). Sie haben Angst, dass ihre Person in ein schwarzes Loch gezogen wird, aus dem es kein Entrinnen mehr gibt; Angst, dass die Verbannten die Führung übernehmen und das System mit Inhalten aus dem Erleben der Verbannten überschwemmt wird. Sie befürchten, dass Grausiges zutage kommt, (Familien-)Geheimnisse aufgedeckt werden könnten, Verrat an geliebten Personen begangen werden muss. Ihre Person könnte abhängig, bedürftig oder verletzlich werden, ohne die schützende Hülle der Manager, und ihren Alltag nicht mehr bewältigen. (Was tatsächlich gar nicht so selten geschieht, wenn einem Klienten bei einem stationären Aufenthalt seine organisatorischen, selbstverantwortlichen Beschützerteile »abgenommen« werden und/oder ein Teil von ihm sich danach sehnt, von anderen versorgt zu werden. Oder auch wenn die psychischen Beschützer bei zu schnell aufdeckender Therapie und/oder bei herausdrängenden Verbannten ausgeschaltet werden. Dann überfluten die Verbannten schnell das innere System – mit der Folge von noch stärker auftretenden Beschützern.)
Auch könnte jede Berührung mit dem Schmerz ohne die Manager heftigste, zerstörerische Feuerbekämpfer-Anteile (selbstverletzende, suizidale, dissoziative Suchtanteile) auf den Plan rufen, was noch gefährlicher wäre (und auch nicht unrealistisch ist). Außerdem befürchten sie, dass der Therapeut mit den Verbannten nicht klarkommt, sie nicht aushält, angeekelt oder ebenfalls überschwemmt werden könnte und dann den Klienten ebenfalls im Stich lassen würde. Eine weitere große Sorge ist, dass sie ihre Aufgabe verlieren, in der Bedeutungslosigkeit versinken oder gar vernichtet werden sollen. Daher ist es unabdingbar, den Beschützern (das gilt für Manager und Feuerbekämpfer) mit Wahrhaftigkeit, Ernsthaftigkeit, Interesse, Achtsamkeit und Absichtslosigkeit zu begegnen. Das ist für die Therapeutin nicht immer leicht, springen doch gerade hier die bewertenden Therapeuten-Teile an). Als Therapeutin weckt man das eigene Interesse und das der Klienten (Selbsteigenschaften), um die Ängste, Bedenken und Befürchtungen der Beschützer kennenzulernen und um herauszufinden, wie sie denn ihre Aufgabe tun und was sie beschützen wollen. Ehrliche Verhandlungsangebote vom Selbst der Therapeuten und des Klienten an die Beschützer sind hilfreich. Jegliches Manipulieren, was vielleicht von einem Teil des Therapeuten oder des Klienten ausgehen könnte, der schnelle Veränderung möchte, wird sofort durchschaut und ist daher nutzlos. Aber Beschützer sind offen für Veränderung, wenn sie nicht befürchten müssen, ausgestoßen zu werden, und wenn sie die Hoffnung haben, dass ihrem Menschen anderweitig geholfen werden könnte. Sobald sie die Präsenz des SELBST spüren können, sind sie zur Kooperation bereit und übernehmen gerne ihnen entsprechende andere Aufgaben für das System – in Kooperation