Oliver Lazar
1.1 43 Jahre Prolog des Lebens
Als Kind des Ruhrgebiets wurde ich 1974 in Essen geboren, wo ich eine glückliche und wohlbehütete Kindheit erleben durfte. Ich wurde säkular* erzogen und führte ein ganz normales Kinder- und Teenagerleben. Themen wie Krankheit, Religion, Spiritualität oder Tod spielten in meinem Leben keine Rolle. Nach meinem Abitur im Jahre 1994 absolvierte ich meinen 15-monatigen Zivildienst im Krankenhaus als Vorbereitung auf mein daran anschließendes Medizinstudium an der Universität Essen. Ich arbeitete in der Pflege auf einer septischen chirurgischen Abteilung, wo ich als 19-jähriger Mann erstmals mit dem harten beruflichen Alltag konfrontiert wurde. Ich durfte sehr viele wertvolle Erfahrungen machen, die mich zum Teil auch noch abseits des Arbeitsplatzes intensiv beschäftigten. Es war nicht einfach, die Patienten und ihre Angehörigen in ihrem Leid zu begleiten. Nicht selten konnten weder Behandlungen noch Pflege das Sterben verhindern. Ich werde den Moment nie vergessen, als ich meine erste Leiche gesehen habe. Diesen offen stehenden Mund, die fahle Hautfarbe, den kalten Körper und die absolute Stille empfinde ich heute noch als sehr bedrückend. In meiner Jugendlichkeit machte ich mir noch keine tiefgreifenden Gedanken darüber, was der Tod eigentlich bedeutet und ob es so etwas wie Seelen gibt. Ich fand es jedoch zutiefst beeindruckend, wie leer und unmenschlich ein toter Körper aussieht. Mit der Zeit gewann ich an Routine. Schließlich musste ich im Rahmen meines Medizinstudiums im Präparationskurs der Anatomie alle (und ich meine wirklich ALLE!) Einzelheiten des menschlichen Körpers an einer Spenderleiche präparieren und erklären können. Ich lernte den menschlichen Körper in seiner Gänze kennen. Neben der Anatomie erwarb ich auch in vielen anderen Fachbereichen wie z. B. in der Chemie, Biologie, Biochemie, Physiologie und Psychologie profundes Fachwissen. Nach meinem Staatsexamen erlebte ich den klinischen Alltag immer näher, und die Vorstellung, ein Leben lang tagtäglich als Arzt arbeiten zu müssen, rief in mir ein großes Unbehagen hervor. Ich war zwar noch weit von einer spirituellen Einstellung entfernt, aber ich habe schon immer auf mein Bauchgefühl gehört und wusste, dass ich einen anderen beruflichen Weg einschlagen muss, um glücklich zu werden. Da ich mich in meiner Freizeit unheimlich gern mit Computern und Software beschäftigte, wollte ich dieses Hobby zu meinem Beruf machen. So begann ich eine Ausbildung als Programmierer beim Landesamt für Datenverarbeitung und Statistik in Düsseldorf, um im Anschluss daran Informatik an der Technischen Universität in Dortmund zu studieren. Mit dem Diplom in der Tasche zog ich dann im Jahre 2005 mit meiner Frau und unseren beiden Töchtern nach Zell am See in Österreich, wo ich die Leitung der IT-Abteilung des allgemeinen öffentlichen Krankenhauses übernahm. Nach etwas mehr als zwei Jahren in den Alpen ging es wieder in die alte Heimat zurück, wo ich an der medizinischen Fakultät der Universität Duisburg-Essen mit meiner Dissertation über die Auswirkungen auf das sympathische Nervensystem mit Kombinationstherapien bei der Behandlung von Patienten mit Bluthochdruck zum Doktor in den Naturwissenschaften der Medizin promovierte. Meine nächste berufliche Station war das Fraunhofer Institut für mikroelektronische Schaltungen und Systeme (IMS) in Duisburg, wo ich als Wissenschaftler und Projektleiter in diversen BMBF*-geförderten Forschungsprojekten die Aspekte der angewandten Forschung hautnah erleben konnte. Seit 2012 bin ich Professor für Informatik an Deutschlands größter privaten Hochschule am Standort Düsseldorf.
Dies sind also meine Lebensstationen. Bis zu meinem 43. Lebensjahr hielt ich dieses Leben für erfüllt und vollständig. Familiär und beruflich lief alles wunderbar. Wir waren glücklich, und nichts sprach dafür, dass sich daran je etwas ändern sollte. Die Spiritualität spielte in meinem Leben, wie bereits erwähnt, keine Rolle. Sie war mir schlichtweg egal. Niemals hätte ich gedacht, dass ich am Anfang einer komplett neuen und unerwartet aufregenden Etappe meines Lebens stehen würde.
1.2 Der Tag, an dem sich alles veränderte
Wir sind alle nur Besucher auf dieser Welt und zu dieser Zeit. Unsere Seelen sind nur auf der Durchreise. Unsere Aufgabe hier ist es, zu beobachten, zu lernen, zu wachsen, zu lieben und dann wieder nach Hause zu gehen.
Weisheit der Aborigines
Wir haben in unserem Stadtteil eine kleine Fahrgemeinschaft gegründet, um unsere Kinder morgens in die Schule zu bringen. Wir sind drei Familien und wechseln uns dabei immer ab. Als ich an jenem Montagmorgen im Oktober 2017 an der Reihe war und in mein Auto stieg, um die Kinder zur Schule zu fahren, ahnte ich nicht, dass dieser Tag mein Leben unglaublich verändern würde. Kurz vor der Schule bildete sich an einer Einfahrt zu einem Bauernhof ein Stau. Ich kam einige Meter vor dieser Einfahrt zum Stehen. Ein großer LKW blockierte die Einfahrt. Ich sah, wie ein Mann ganz aufgeregt mit seinem Handy auf und ab lief. In dem Moment hörte ich schon das Martinshorn und sah im Rückspiegel einen Rettungswagen (RTW) kommen. Schnell fuhr ich noch ein Stück zur Seite, damit der RTW freie Fahrt hatte. Ich sah, wie der Notarzt ausstieg und nach wenigen Sekunden anfing, hektisch zu rennen und Geräte aus dem Wagen zu holen. In diesem Moment wurde mir klar, dass die Lage ernst sein musste und dass es offensichtlich einen Unfall mit dem LKW gegeben hatte und der Notarzt um das Leben eines Menschen kämpfte. Schließlich fuhr ich mit einem mulmigen Gefühl weiter zur Schule, wo ich die Kinder absetzte. Doch an diesem Tag sollte der Unterricht ausfallen. Noch am Vormittag kam meine Tochter wieder nach Hause, stürmte ins Haus und rief: »Das war Joma heute Morgen!« Joma war eine Klassenkameradin meiner Tochter. Eigentlich hieß sie Johanna-Maria, doch alle nannten sie nur Joma. Sie wurde auf dem Weg zur Schule auf ihrem Fahrrad von einem abbiegenden LKW überfahren. Ich kannte dieses Mädchen eigentlich nicht, es war mir nur von wenigen flüchtigen Blicken her bekannt. Ich kann mich noch gut daran erinnern, dass ich an diesem Tag nichts anderes um mich herum mehr wahrnahm. Meine Gedanken kreisten ausschließlich um das mir fremde Mädchen und ihre Eltern. Ständig aktualisierte ich die Nachrichtenseiten, um auf dem aktuellsten Stand zu sein, und schließlich stand am Nachmittag die Mitteilung, dass das Mädchen an den Folgen des Unfalls verstorben war, mit einem schwarzen symbolischen Kreuz versehen im Internet. In diesem Moment geschah etwas mit mir. Ich wusste sofort, dass dies ein einschneidendes Erlebnis in meinem Leben ist. In mir brach eine Welt zusammen. Mein Herz wurde zerrissen. Ich konnte nicht mehr klar denken, und ich habe die Trauer um das Mädchen in einer Tiefe empfunden, wie ich es noch nie zuvor in meinem Leben auch nur ansatzweise erlebt hatte. Dieser Zustand ließ mich einfach nicht mehr los. Anfangs hielt ich diese Reaktion noch für normal. Doch der Schmerz wollte einfach nicht abklingen. Ich konnte mir nicht erklären, warum ich auf so eine extreme Art und Weise reagierte. Was ich durchlebte, ging bei Weitem über das normale Maß des Mitgefühls hinaus. Die Trauer nahm nicht ab, sondern wurde im Gegenteil immer größer und stärker. Als ich nach mehreren Tagen mit meinem Vater über Jomas Beerdigung und Trauerfeier sprach, erzählte er mir von einem Arbeitskollegen, dessen Kind auch vor einigen Jahren gestorben war. Er meinte, dass man Abstand nehmen müsse, damit das Leben weitergehen kann.
Abstand nehmen? Das kam für mich überhaupt nicht infrage, das hätte mich noch unglücklicher gemacht. Ich hatte ganz im Gegenteil das unbändige Bedürfnis, die Nähe der Leute zu suchen. Ich verstand mich selbst nicht mehr, da ich doch weder das Mädchen noch seine Eltern kannte. Joma war so ziemlich das einzige Kind aus der Klasse meiner Tochter, mit dem ich niemals richtig Kontakt hatte. Doch immer wieder erschien vor meinem inneren Auge ein kurzer Moment, wo sie bei einer Schulveranstaltung ganz nah an mir vorbeigegangen war und bei dem sich unsere Blicke für den Bruchteil einer Sekunde getroffen hatten. Damals hatte ich diesen unscheinbaren Augenblick überhaupt nicht wahrgenommen, und es war mir nicht bewusst, dass ich eine Erinnerung daran besitze. Doch seit dem Unfall blühte dieses Bild so intensiv in mir in voller Klarheit auf. Ich konnte an nichts anderes mehr als an Joma und ihre Eltern denken, und teilweise hatte ich Angst, dass mich meine empathisch hoch sensitive Natur und diese intensiven Gefühle vernichten und zu Boden reißen würden. Meine eigene Familie erlebte mich mehrere Wochen und Monate still und zurückgezogen in einer Art depressiv verstörenden Stimmung, worauf die Familie zunächst mit Unverständnis reagierte. Meine Frau machte