Breathing under water – „Unter Wasser atmen“
Ich habe mein Haus am Meer gebaut.
Nicht auf Sand, wohlgemerkt,
nicht auf Treibsand.
Ich habe es aus Stein gebaut.
Ein starkes Haus
an einem starken Meer.
Und wir haben uns aneinander gewöhnt,
das Meer und ich.
Gute Nachbarn.
Nicht dass wir viel gesprochen hätten.
Wir trafen uns schweigend.
Respektvoll, auf Abstand bedacht,
aber mit Blick auf unsere Gedanken
durch den Zaun aus Sand.
Stets mit dem Zaun aus Sand als Grenze,
stets den Sand zwischen uns.
Aber eines Tages,
und ich weiß immer noch nicht, wie es geschah,
da kam das Meer.
Ohne Warnung.
Auch ohne Einladung.
Nicht plötzlich und schnell,
sondern eher wie Wein
sich durch den Sand einen Weg bahnend,
weniger wie Wasser fließt
es wie ein Strömen von Blut.
Langsam, aber stetig.
Langsam, aber Strömen wie eine offene Wunde.
Und ich dachte an Flucht und an Ertrinken
und an den Tod.
Und während ich noch dachte, stieg das Meer höher,
bis es meine Tür erreichte.
Und da wusste ich, es gab keine Flucht, keinen Tod,
kein Ertrinken.
Wenn das Meer kommt und nach dir ruft,
gibt es keine gute Nachbarschaft mehr,
als ob ihr euch gut kennt und freundlich distanziert
bleibt.
Du tauschst dein Haus ein gegen ein Schloss
aus Korallen,
und du lernst,
unter Wasser zu atmen.
Carol Bieleck – Kongregation Sacré Cœur 4
I.PROLOG – Das Grenzsyndrom
„Auf jeden Fall weiß ich,
dass es außer mir noch viele andere Menschen gibt,
die unter dem Grenzsyndrom leiden.
Doch –
wer nie das Verlangen verspürt hat,
eine Grenze zu überwinden,
oder sich nie vor einer Grenze zurückgestoßen sah,
wird schwerlich nur verstehen,
wovon ich spreche.“
Gazmend Kapllani 5
Mitunter brechen Zustände über unser Leben herein, die bei nahezu jedem zu nachhaltigen Eindrücken katastrophenartigen Ausmaßes führen können.
Verzweiflung nährt sich dann aus Verzweiflung. Es existiert jedoch derzeit – und dies im globalen Sinne – eine Gruppe von Menschen (über 80 Millionen) auf dem Erdball, deren Verzweiflung bereits vor Einbruch einer derartigen Katastrophe ein solch unaussprechbares Maß an Unerträglichkeit erreicht hat, dass diese der sodann über sie hereinbrechenden Katastrophe nur mehr stoisch, resignierend und mit stummem Schrei antworten konnten:
Am 09.09.2020 brannte das Flüchtlingslager Moria auf der griechischen Insel Lesbos nahezu vollständig aus. Die bereits vor dem Ausbruch des Brandes über dem Lager – durch die seit Jahren anhaltende Überfüllung – schwebende und schwelende Ausweglosigkeit ließ zahlreiche Einzelschicksale zusammenbrechen unter der Last der fehlenden Perspektive und ausbleibenden Hoffnung auf ein Ankommen im weiteren Leben dieser Betroffenen.
Der Brand des Lagers selbst, die Beraubung der letzten noch verbliebenen Besitztümer, traf viele Menschen zu einem Zeitpunkt, welcher zahlreiche Geflüchtete bereits resigniert – ohne Antrieb – geradezu im Zustand einer seelischen Betäubung verharren ließ. Ohne Zweifel litten zu diesem Zeitpunkt bereits die meisten Bewohner dieses Lagers unter Folgestörungen einer entweder in Ansätzen begriffenen oder bereits eingetretenen oder fortgeschrittenen Form der Traumatisierung, bevor die schreckliche Brandkatastrophe ihren endgültigen Ausgang nahm.
Diese Situationskonstellation am Beispiel der Brandkatastrophe von Moria beschreibt einen Zustand, welchen die meisten Flüchtlinge (gleich aus welchen Gründen sie ursprünglich ihr Herkunftsland einmal verlassen haben) entweder in ihrem Herkunftsland selbst, auf der Flucht oder in einem ihrer Zielstaaten in mehr oder weniger abgewandelter Form erleben:
Sie stehen gegenüber Grenzen, die sie überwinden wollen oder müssen, um ihren Zielstaat erreichen zu können, aber sie erleben, dass sie von diesen Grenzen zurückgewiesen werden, unter Umständen auch unter Anwendung von staatlicher Gewalt. In diesem Zusammenhang wird auch von Betroffenen von dem sogenannten Grenzsyndrom5 gesprochen. Spricht man mit Flüchtlingen, so signalisieren nicht wenige Betroffene, dass es wie eine Krankheit sei, Symptome auslöse, aber in keinem diagnostischen Kriterienkatalog zu finden sei. Viele berichten darüber, dass man das Grenzsyndrom nicht verstehen könne, wenn man nicht selbst versucht habe, unüberwindliche Grenzen zu passieren.
Während das sogenannte Grenzsyndrom keiner tatsächlich vergleichbaren Diagnose entspricht, löst die Traumatisierung in ihren vielfältigen Formen eine ganze Reihe von typischen Symptomen psychischer und körperlicher Art aus, welche in ihren unterschiedlichen Ausprägungsgraden durchaus ganz konkret spezifischen Diagnosen auf dem Fachgebiet der Psychiatrie zugeordnet werden können:
Vom Zeitpunkt des Verlassens ihres Herkunftslandes, somit also dem Beginn der Flucht selbst, bis zur Ankunft im angesteuerten oder auch zugeteilten Zielstaat erfahren Migranten immer wieder auf sie einwirkende Ereignisse und Situationskonstellationen, die in ihrem jeweiligen Ausmaß Traumata vielgestaltiger Art hinterlassen. Die Einwirkungsmöglichkeiten sind vielfältig:
Die die unmittelbare Flucht auslösenden Stressoren und Impulse beginnen in der Regel im Herkunftsland selbst, häufig in Form von Lebensmittelknappheit, Dürrekatastrophen, Nachstellung, Bedrohung und Tötung von Familienangehörigen, politisch motivierter Verfolgung, Haft, Folter und letztlich nicht selten in Form von Todesdrohungen.
Die lebensbedrohlichen Zustände setzen sich mit Beginn und Aufnahme der Flucht fort, Flüchtlinge geraten in den Einflussbereich von Schleppern, werden unterwegs immer wieder in Wüstenregionen ausgesetzt, in „Übergangslagern“ interniert, versklavt und inhaftiert und werden dabei nicht selten Opfer von Gewalt und Folter. In jedem Falle jedoch geraten sie in unüberwindbare Abhängigkeitsverhältnisse.
Diejenigen, die sich in ihrer Not für den