Die Gemeinde zu leiten, Gottesdienst zu halten und das Abendmahl auszuteilen, stand nur ihrem Begründer zu, der sich dabei auf die Schmalkaldischen Artikel berief, die ein Notregiment durch einen Laien vorsahen, wenn kein ordinierter Pastor zur Verfügung stand. Wie oft in urchristlichen Gemeinden kam es auch zu Rivalitäten. Die Bemühung eines der Dahlemer Bekennenden Gemeinde nahestehenden Gemeindeglieds, Dr. Hamburger, als dort ordinierter Notgeistlicher auch zu predigen, wurde nach einem ersten Versuch von der Gemeindeversammlung abgewiesen. Neben der Treue zu dem Gemeindegründer spielte auch das Argument eine Rolle, er komme nicht richtig an und stelle mehr als den Auftrag, der Gemeinde „einen gewissen Halt gegen das äußere Leiden zu geben“ (234), dogmatische Fragen in den Mittelpunkt. Später kam ein holländischer Pastor jüdischer Herkunft, Dominus Enker, nach Theresienstadt, der dann wegen der deportierten holländischen Juden selbstverständlich predigen durfte. Neben den Gottesdiensten gab es auch Gemeindeabende mit Vorträgen verschiedener Referenten und Bibelarbeiten. Goldschmidt, ein begabter Maler, fertigte davon Zeichnungen an, auch von den Trauerfeiern, die angesichts der hohen Sterblichkeit häufig stattfanden. Zunächst nicht unterschieden von den jüdischen Trauerfeiern, später dann doch in einer eigenen Halle mit Kruzifix und dem Spruch „Ego sum resurrectio“. Taufen wurden nicht vorgenommen, Trauungen nur in Ausnahmefällen. Es hätte ja dazu einer vorherigen standesdesamtlichen Eheschließung bedurft.
Die Ernährung in Theresienstadt war schlecht und „auf allmählichen Untergang abgestellt. Es herrschte ständiger Hunger, und die Menschen magerten rasch zu Skeletten ab; das Gewicht der Verstorbenen betrug vielfach nur 60 Pfund (…) Zu dem Hunger kam das unbeschreibliche Wohnungselend. Man litt unter unvorstellbaren Mengen von Ungeziefer.“ (220 f.) Hinzu kam die seelische Qual, ohne Nachrichten von den Lieben draußen zu sein und nichts von der militärischen Lage zu wissen. „Auch ein früheres Todesgeschick klopfte Tag für Tag an das Tor: Abtransport. Alle acht Wochen bis zwölf Wochen, mitunter öfter, wurden ein-, zwei-, fünftausend Menschen zum Abtransport bestimmt; niemand wußte, wen und wann es ihn traf.“ (221) Abtransport in den, wie man ahnte, Tod. In dieser extrem belastenden Situation eine Gemeinde von Judenchristen aufzubauen und zu leiten, war eine große Aufgabe. Wie aber in dieser bedrohlichen Situation, zwischen dem langsamen Verhungern und dem Abtransport nach Osten, das Wort Gottes verkünden? Was konnte da einer Gemeinde, die danach hungerte, Trost geben? Was Goldschmidt dazu sagt, hat mich als Prediger, der nie in einer ähnlichen Situation war und zu Zweifeln über die Wirksamkeit der Predigt neigt, (wie heißt es im Wunderhornlied Mahlers: „die Predigt hat gefallen, sie bleiben wie allen“) besonders beeindruckt. Ich habe immer daran gezweifelt, dass in einem Ghetto oder KZ ein lebbarer Glaube an einen gerechten und barmherzigen Gott möglich sei. Denn der war doch in diesem Grauen so weit weg, Lichtjahre entfernt. Ein KZ als Vernichtungslager, selbst ein (halbwegs Überleben ermöglichendes) Ghetto wie das in Theresienstadt war in der Nazizeit doch die Widerlegung Gottes. „Zu Tausenden und Abertausenden zusammengepfercht, entbehrte unser Leben jeden höheren Sinnes. Denn unaufhörlich starrte uns das Ende an, sei es, daß man heute oder morgen in Not und Krankheit hinstarb, sei es, daß heute oder morgen das zum Feind gewordene Vaterland uns tötete“ (250), beschreibt Goldschmidt ohne Beschönigung die Lage der Bewohner. „Der Gedanke an Rettung und Befreiung, der dazu noch herzbedrückend, den Gedanken an die Niederlage und den Untergang Deutschlands in sich schloß, war wie eine Fata Morgana, wie eine Lichtspiegelung in unerreichbarer Ferne, die nur wenige sahen. Wer von uns konnte schon mit dem Herrn sagen: ‚Seid getrost, ich habe die Welt überwunden!‘“ (250)
Und nun höre man, was Goldschmidt im Angesicht der drohenden Vernichtung als Aufgabe der Verkündigung beschrieb: „Von der Gnade des Herrn zu sprechen, daß sie auch uns leuchtete, uns in diesem anscheinend hoffnungslosen Leben, das musste der Inhalt der Predigt sein.“ Es konnte sich nicht um Erbauung oder Belehrung handeln, sondern „um Erweckung von Mut aus der Heilsgewißheit im Blick auf das Letzte (…) Nur dieser Mut machte es möglich, das Leben in dieser Welt zu ertragen, in einer Welt, die für uns doch noch nicht zu Ende war.“ (251) Die Predigt sollte nicht chiliastisch sein, also auf den neuen Himmel und die neue Erde gerichtet, nicht Jenseitstrost, sondern Diesseitsermutigung mit dem Satz des Paulus „Hoffnung lässt nicht zuschanden werden.“ (Rö 5,5) „Man konnte das Wort diesseits wendend, die verweinten Augen zum Leuchten bringen.“ Welch ein schlichter schöner Satz, der der Predigt das zutraut! Ich war immer ein Kritiker einer allzu direkten Wort Gottes-Theologie, die von der Selbstdurchsetzung des Wortes spricht. Hier jedoch möchte ich an sie glauben!
Und dann der Ausblick auf das Leben nach dem Kriegsende: „Unsere Aufgabe ist dann nicht Vergeltung zu üben, sondern mitaufzubauen an dem inneren Deutschland, sich auswirken zu lassen, was das Leid uns an geistiger Erhöhung geschenkt hat.“ (253) Was für eine großherzige Versöhnungshaltung eines Mitglieds des Volkes, das die Nazis in Europa fast ausrotteten!
Abschließend geht Goldschmidt auf die erzieherische Aufgabe der Predigt ein; sie liege darin, auf die nicht verhehlte christliche Überheblichkeit gegenüber dem Judentum, das wahre Israel zu sein, hinzuweisen. Es sei ihre Aufgabe, die „immer verspöttelte jüdische Gesetzestreue, die Einstellung Christi zum Gesetz und den Pharisäern verständlich“ zu machen und Respekt für die Aufrechterhaltung der Tradition und das Volk zu erwecken, von dem man sich zu lösen versuchte. (252) Ich muss leider berichten, dass in meinem Theologiestudium in den 60er Jahren die Kritik an der jüdischen Gesetzesreligion unter den Theologieprofessoren noch weit verbreitet war. Erst die Erklärung der Rheinischen Synode von 1980 hat hier eine Veränderung bewirkt und daran festgehalten, dass Israel weiter das erwählte Volk Gottes und eine Judenmission daher nicht nötig sei. Sie wurde allerdings von einigen Theologieprofessoren deshalb kritisiert. Arthur Goldschmidt schließt seinen Bericht mit dem Bekenntnis, die Predigt müsse der Kraft des Wortes Gottes glauben, sich allein auf das Evangelium stellen und darauf vertrauen, dass es wirkt. „Ein Zeichen dafür, dass es in gewissem Grade vielleicht der Fall war, mag der große Besuch der Predigt sein und die geschlossene Haltung der Gemeinde all die Zeit des bitteren Leids und des Endes so vieler, bis zur Stunde, da die Gemeinde – im Juni 1945 – nach einem letzten Dankgottesdienst sich auflöste und die wenigen am Leben Gebliebenen befreit allmählich wieder in die Welt zurückkehren konnten.“ (253) Für mich ist dieser Bericht ein wunderbares Zeugnis über die schwache Anwesenheit eines abwesenden Gottes.1
Nach Einführung des Judensterns 1941 erklärten sieben von Deutschen Christen beherrschte Landeskirchen, sich von ihren Judenchristen zu trennen. In einer Erklärung vom 17. Dezember 1941 stellten sie sich hinter den staatlichen „Abwehrkampf gegen die Juden“, die „den Krieg in seinen weltweiten Ausmaßen angezettelt“ hätten.2 Im Kirchenkreis Stormarn, zu dem auch Reinbek gehörte, forderte der Propst die Gemeinden auf, getaufte Juden vor Beginn des Gottesdienstes darauf aufmerksam zu machen, „daß sie ihre judenchristliche Gemeinschaft aufsuchen müssen, „weil unsere Kirche eine deutsche Volkskirche ist.“3 Das war eine zynische Empfehlung, denn eine judenchristliche Gemeinde gab es in Stormarn nicht, was der Propst natürlich wusste. Sie bildete sich aber im Ghetto Theresienstadt, und in dem Bericht des ehemals zum Kirchenkreis Stormarn gehörenden Christen Arthur Goldschmidt wurde von ihrer Existenz eindrucksvoll Zeugnis abgelegt. Es dauerte aber 65 Jahre, bis auch die kirchliche Öffentlichkeit in der inzwischen Nordelbischen Kirche davon Kenntnis erhielt. Das war in der Wander-Ausstellung „Kirche, Christen, Juden, in Nordelbien 1933–1945“ aus dem Jahr 2011, in der nach anfänglichen Schwierigkeiten, worüber sich sein Sohn Georges Arthur Goldschmidt zu Recht noch heute ärgert, Arthur Goldschmidts Bericht zusammen mit seinen Bleistiftzeichnungen in einer Black Box ausgestellt wurde.
„Mit dem letzten (deportierten) Juden verschwindet auch das Christentum aus Deutschland.“
Elisabeth Schmitz’ mutiges Eintreten für die Juden und das Versagen der Kirche
An jedem Sonntag der schrecklichen zwölf Jahre von 1933 bis 1945 wurde in zehntausenden katholischer und evangelischer Gemeinden Gottesdienste gehalten. Es