Es muß also unterschieden werden zwischen dem Anspruch, die Welt (also auch die menschliche Geschichte) vernünftig zu erfassen, und der einem solchen Anspruch fortwährend entgegenwirkenden Anwesenheit mythischer Erkenntnismuster. Zwar intendieren die Menschen nicht die Zulassung solcher Pattern in ihr Denken, und dennoch befinden sich diese in ihm. Dies soll freilich nicht besagen, daß diese »Überbleibsel mythischer Auffassungen und mythischen Denkens« aus dem Nichts auftauchten. Der Mensch selber bringt sie in sich hervor: Mag er dies rational auch nicht beabsichtigen, so befriedigen sie doch gewisse ihm nicht bewußte Bedürfnisse. In der kollektiven Sphäre läßt sich das Phänomen mit dem Marxschen Ideologiebegriff verdeutlichen. »Mit dem Terminus Ideologie bezeichneten Marx und Engels den grundlegenden, wesentlichen Gehalt des bürgerlichen Klassenbewußtseins, d.h. das falsche Bewußtsein der eigenen gesellschaftlichen Situation, der historischen Rolle und Perspektive dieser Klasse, insbesondere die Idee der Ewigkeit der bürgerlichen Verhältnisse«.4 Schon der Ausdruck »falsches Bewußtsein« impliziert das Postulat einer Nichtübereinstimmung zwischen der objektiven, »wahren« Situation des Menschen und dem Modus seines Bewußtseins in Beziehung auf eben diese Situation. Das Funktionale dieser Gegebenheit ist rational im sogenannten »Klasseninteresse« verankert und in »irrationaler« Hinsicht in dem, was Hahn als »Schranke, die [die Bourgeoisie] auch im Denken nicht zu überschreiten vermag«, bezeichnet.5
Daraus geht allerdings weder der genetische Ursprung dieser »Schranke« noch der Einfluß, den sie auf die Tathandlung ausübt, hervor. Horkheimer bemerkt zwar, die Theorie sei kein Rezept, und das Handeln enthalte »ein Moment, das in der kontemplativen Gestalt der Theorie nicht ganz aufgeht«; aber auch seine Feststellung, daß »zwischen Theorie und Praxis, zwischen Denken und Handeln, eine Art von Notwendigkeit bestehen« könne6, löst das Problem letztlich nicht, denn die »Notwendigkeit« kann ebenso eine unbewußte Handlung hervorbringen, wie sie andererseits einer bewußten Handlung unterlegt sein mag. Habermas hingegen hebt hervor: »[…] die Verhaltensreaktionen sind stets vermittelt durch die Interpretationen, unter denen die Handelnden aus ihrem Erwartungshorizont […] die ›beeinflußenden‹ Ereignisse auffassen.«7 Diese Behauptung ist für unsere Problemstellung von immenser Wichtigkeit, weil in ihr das a priori Verhältnismäßige an der Art, wie Menschen ihre Welt auffassen, und der sie zur Handlung bewegenden Kodes – zumindest indirekt – zum Ausdruck kommt. Der »Erwartungshorizont« und die Entscheidung, welche »die ›beeinflußenden‹ Ereignisse« seien, stimmen nicht unbedingt mit der der »objektiven Situation« angemessenen Rezeption überein, und dennoch kodifizieren sie die Einstellungen und Handlungsweisen des Menschen. In dieser Bedeutung hat man auch die »symbolische Sinnwelt« zu begreifen, die von Berger und Luckmann als »die Matrix aller gesellschaftlich objektivierten und subjektiv wirklichen Sinnhaftigkeit« definiert wird. »Die ganze Geschichte der Gesellschaft und das ganze Leben des Einzelnen sind Ereignisse innerhalb dieser Sinnwelt.«8
Selbstverständlich entstehen so unzählig viele Kode-Matrizes. Dieser Umstand ist sowohl unserer Beschränktheit in der ontologischen Erfassung der Realität als auch den diese Realität konstituierenden, letztlich vorgegebenen Antagonismen zuzuschreiben. Dasselbe läßt sich über die Kode-Matrizes der mannigfaltig möglichen Historiographien der Französischen Revolution sagen; Lévi-Strauss hat hierauf Bezug genommen:
»Sobald man sich vornimmt, die Geschichte der Französischen Revolution zu schreiben, weiß man (oder sollte wissen), daß sie nicht gleichzeitig und mit demselben Anspruch die des Jakobiners und die des Aristokraten sein kann. Der Hypothese zufolge sind ihre jeweiligen Totalisierungen (deren jede sich antisymmetrisch zur anderen verhält) gleicherweise wahr. Man muß also zwischen zwei Parteien wählen: entweder einer von beiden oder einer dritten (denn es gibt ihrer unendlich viele) den Vorrang geben und darauf verzichten, in der Geschichte eine Gesamttotalisierung partieller Totalisierungen zu suchen; oder allen eine gleiche Wirklichkeit zuerkennen: doch nur um zu entdecken, daß die Französische Revolution, so, wie man von ihr spricht, nicht existiert hat.«9
Dieses Problem ist letztlich unlösbar. Man kann sich lediglich einer von zwei Auffassungen anschließen: Eben der Ansicht von Lévi-Strauss, daß »der Historiker oder der Agent des historischen Werdens« die historische Tatsache »durch Abstraktion und gleichsam unter der Drohung eines unendlichen Regresses« konstituiere10, oder der kompromißhaften Entscheidung Alexander Demandts, das Problem als ein hermeneutisches und kein ontologisches zu begreifen, um somit wenigstens eine gewisse begriffliche Prägnanz zu erreichen: »Mit der Französischen Revolution wurde der Begriff […] zur Metapher aus der Geschichte, insofern beim Gebrauch des Begriffs ›Revolution‹ immer die Erinnerung an jene spezielle Revolution mitschwingt und erwarten läßt, daß jeder mit ›Revolution‹ bezeichnete Vorgang wesentliche Gemeinsamkeiten mit der Französischen Revolution besitzt, zumindest eine Dosis Gewaltsamkeit.«11
So besehen, wird die Französische Revolution zur »Erinnerung« oder Assoziation, die sich in der einen Matrix mit dem Schlüsselbegriff »Gewaltsamkeit«, in der anderen mit »Emanzipation« und in der von uns herausgearbeiteten eben mit der Verbindung »Gewalt und Emanzipation« kodifizieren läßt, wobei diese vom motivischen Kode »Auflehnung gegen die Autorität« abgeleitet wird.
In der Französischen Revolution findet die dialektische Verknüpfung von Auflehnung gegen die Autorität, Gewalt und Emanzipation ihren nahezu fortwährenden Ausdruck – von jenem ersten dramatischen Moment der berühmten Antwort Mirabeaus an den Zeremonienmeister an bis hin zum großen Wendepunkt der gesamten Revolution, dem Sturz der Monarchie und der Hinrichtung des Königs. Fügt man die Phase der jakobinischen Herrschaft hinzu, so kann man behaupten, jedes dieser Elemente habe sich in dieser Zeitspanne solchermaßen verdichtet, daß durch die Ereignisse selbst idealtypische Modelle der kodifizierten Rezeption entstanden seien: Die Auflehnung gegen die Autorität durch die zunehmende Schwächung der traditionellen Position des Königs, die Gewalt durch seine Hinrichtung und durch den Terror und die Emanzipation durch die Errichtung der Republik und die sich daraus ergebende Machtübernahme durch die Volksrepräsentation. Angesichts einer solchen mit sowohl positiven als auch negativen Gefühlen und Assoziationen beladenen Kode-Matrix, ist es unumgänglich, daß die Bewertung der Revolution stets mit einer gewissen Ambivalenz einhergeht, wie sie, beispielsweise, in den Worten Andre Maurois’ ihren Niederschlag gefunden hat: »Die Französische Revolution ist gleichzeitig ein weltgeschichtliches Abenteuer, ein erhabenes Heldenlied und der Anlaß zu blutigen und schmutzigen Szenen. Diese Verflechtung von Größe und Schrecken zu entwirren, ist fast unmöglich […]«.12