Der Brandner Kaspar. Kurt Wilhelm. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Kurt Wilhelm
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783475549120
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paar Schritte –

      Da geschieht es. Das soll der Moment seines Todes sein. Er hört den Schuss schallen, ganz nah, eh er ihn wie ein Peitschenschlag am Kopf trifft und ihn umwirft. Im Fallen vermeint er, es dauere eine Ewigkeit, bis er den Boden erreicht, und während des schnellen, langsamen Sturzes jagen allerhand Bilder aus seinem Leben vorbei. Dann wird es ihm gänzlich schwarz vor dem Blick. Er liegt auf seinem Gesicht, seine Augen sind zu, und doch erkennt er ganz deutlich, wie und wo er da liegt, so, als stünde er aufrecht daneben und blicke von oben auf sich hinab. Zwischen ihm und der Welt sind auf einmal dicke gläserne Wände errichtet, die alles verzerren, verziehen, und durch die kein Laut dringt. Mit dem Peitschenschlag ist es um ihn stumm und still, starr und betäubt, und vor seinem unwahren Blick regt sich kein Ast und kein Blattl.

      Doch – etwas bewegt sich! Eine schwarze Gestalt erhebt sich in der Entfernung aus dem Dicket und schreitet langsam herzu. Ein Jäger in dunkler Livree will sich forschend über ihn beugen, über ihn, der vermeint, sich selber da liegen zu sehen.

      Der Kaspar möchte ihn anschreien: »Schaug net so loami, tu was und hilf«, da schwindet ihm diese unwirkliche Sicht von oben auf sich herab, wird blass und vergeht. Er kann seine wahren Augen wiederum öffnen, und sie sehen ganz nah vor sich die Steine, Gräser und das Moos des Waldbodens, auf den er gestürzt ist.

      Er ist wieder bei Sinnen, er versucht aufzustehen, dreht den Kopf und erkennt über sich, schattenhaft gegen den weiß-blauen Himmel, wie ein Etwas einen schwarzen Mantel aufhebt, um ein Gesicht zu verbergen, und gleich sich auflöst und fort ist, als sei da niemand gewesen, sondern nur ein Schatten, ein Schemen, sonst nichts.

      »Was is mir denn g’schehn? Warum hat’s mi hing’haut?«, will der Kaspar in seiner Wirrnis fragen und rufen: »Heda, ich bräuchert an Beistand!« Doch aus der Kehle kommt nur Gurgeln und Pfeifen, und gleich darauf fällt wieder Dunkel um ihn, seine Glieder strecken sich leer und schlaff, und der Söllmann, der ihn ängstlich umkreist hat, stupst den Leblosen mit der Schnauze und winselt.

      An diesem Morgen hatte man sich früher versammelt als sonst bei Hofjagden mit erlauchten Gästen, denn die meisten der Teilnehmer waren nicht Sonntagsjäger, die den Schießprügel nur gelegentlich auf gut Glück handhaben, sondern des edlen Waidwerks Kundige. Jagdherr und Gastgeber war der Feldmarschall und Generalinspektor der Armee, Prinz Carl, der Halbbruder des gewesenen Königs, ein Reiter vor dem Herrn, der es an Jagderfahrung mit einem jeden aufnehmen kann. Mit von der Partie waren Mannsbilder, die gleich ihm das Leben in freier Natur der Stadtluft allezeit vorziehen:

      Graf Arco-Zinneberg mit seinem Freund Franz von Kobell, Professor für Mineralogie. Der Advokat Dr. Senger, der sich oberhalb der ehemals gefürsteten Benediktinerabtei Tegernsee ein protziges Lustschlössl erbaut hat. Die Herren von Krempelhuber, von Stegmaier und Reichenbach aus dem Münchener Kaufherrenstande, Herr von Wydenbruckh und der Lord Ponsby, kurz alle jene, die in den letzten Jahrzehnten am Tegernsee, nahe der Gnadensonne des lange betrauerten ersten Königs von Bayern, Max des Ersten Joseph, und seiner sanften Gemahlin Caroline von Baden ein Sommer- und Jagddomizil sich errichtet hatten.

      Die Jagd war zu Ehren Leopolds I., des bald sechzigjährigen Königs der Belgier. Der hohe Besuch, ein Spross des befreundeten Hauses Sachsen-Coburg-Gotha, war ein viel bewunderter, gerechtsamer Herr, ein wichtiger Mann unter den Herrschern Europas. Von großem Einfluss auf seine Nichte Victoria, die englische Königin, dem Hause Frankreich verwandt und den Bayern gewogen. Der Witwer war mit seiner siebzehnjährigen Tochter auf der Reise nach Wien, wo sie dem österreichischen Erzherzog Maximilian verlobt werden sollte. Der alte Herr war, bei allem Wohlwollen, nicht grad als ein exzellenter Schütze zu preisen. Man bot ihm daher nicht eine Pirsch wie einem echten Jäger, sondern eine jener althergebrachten Treibjagden, bei denen man sich nicht echauffieren muss, weil einem gewiss etwas vor die Flinte gebracht wird.

      »Es wird eh a Trauerspiel«, hatte Graf Arco schon in aller Herrgottsfrüh beim hastig getrunkenen Kaffee zu Kobelln gesagt.

      »Na, was denn. Ma kann ihm bloß brav zutreiben. Kommt daher, was mag, wir selber dürfen nix treffen, aus Höflichkeit.«

      »Jedenfalls nicht, bis er einigermaßen a Strecke beinand hat, der Belgierpoldl.«

      Kobell machte schmale Augen unter seinen großen, buschigen Brauen: »Das Beste wird sein, ich halt mich in seiner Näh, und wenn er abdruckt, schieß ich im selben Moment mit, damit wenigstens hie und da irgendwas umfallt. Er wird gewiss nit lang fragen, ob’s meine Kugel war oder die seine.«

      »Hauptsach, er bringt überhaupts eine Strecke z’amm, na is er schon glücklich.«

      »Stehen tät gnua im Revier. Ich hab gestern den alten Brandner gebeten, dass er vorsucht. Könnt sein, am End kommt sogar der Napoleon daher.«

      Graf Arco musste lächeln. ›Napoleon‹ hatte der Brandner einen alten, rauflustigen Zwölfender getauft, der so unberechenbar war wie einst der Franzosenkaiser.

      »Is der vom Fockenstoa abi zum Kogel g’wechselt?«

      »Ja, die vorige Woch’.«

      Bei der gestrigen Behangzeit am Abend hatte der Brandner mit seinem Söllmann die Abtritte des Napoleon ausgemacht und für die Treiber mit Verbruch aus Zweigen bezeichnet. Der gerissene alte Hirsch war nicht von jener edlen Rasse, die Graf Arco vor einiger Zeit angesiedelt hatte. Er hatte als Spießer und Gabler frühzeitig gelernt, die Jäger nicht zu fürchten. Sie taten ihm nichts, weil er damals nicht jagdbar war, und so fühlte er sich allezeit sicher. Wurde er gestellt, hoffte er stolz eine Weile nach allen Seiten, wendete sich in kräftigem Bogen, keineswegs übereilt ins Unterholz, vollführte dort ein paar Wiedergänge und streckte sich endlich ins Dickicht, bis sich die Jagd und die Hörner entfernten. Er spielte sich auf als Platzhirsch, bewachte sein Wildbret gegen jüngere und stärkere Achter, indem er sie zornig ansprach, drohend gegen sie schritt und sie endlich in Sprüngen in die Flucht trieb. Dabei verblieben nicht selten einige Schmaltiere aus dem Harem des Jüngeren achtungsvoll beim Napoleon.

      Derzeit stand er oberhalb von der Holzeralm. Dem lautlos witternden Söllmann nachhängend, hatte der Brandner sein Bett in einer Feuchte gefunden und ihn am Schlosstritt erkannt, mit dem Hirsche beim Erheben mitten in ihrer Lagerstatt den Abdruck der Schalen hinterlassen. In der Nähe wuchs eine Leibspeise des Rotwilds, ein wilder Jasmin. Der allein gehende Napoleon hatte den Platz schon nahezu abgeäst, doch gab es unterhalb noch mehr davon, und so würde er gewiss heute wechseln. Dort war das Unterholz spärlich und licht, von dort aus konnte man ihn leicht vor die Büchsen der Hofjäger treiben als ein Prunkstück für den belgischen Gast.

      Obwohl er drüben daheim war, am anderen Ufer des Sees, am Albach, oberhalb von Kloster und Ort Tegernsee, zwischen Wester- und Pfliegelhof, noch ein Stück höher droben, kannte der Brandner sich auch auf dieser Seite recht gut aus. Auch wenn er selten in dieses Revier kam, sein sechster Sinn für jegliches Wild machte seine Wahrnehmungen verlässig. Dafür hatte ihn noch ein jeder Jagdherr belobigt. Instinkt, Erfahrung und seine lebenslange Leidenschaft für die Jägerei ließen ihn den Jungen in allen Stücken über sein.

      Der Haller Simon, Hofjäger in Diensten des Prinzen Carl, zog ungern auf eine große Jagd, wenn der Brandner nicht mit von der Partie war. Manchmal zahlte er ihm sogar aus der eigenen Tasche einen Sold als Jagdhelfer, weil er wusste, dass er in heiklen Situationen ohne den Alten aufgeschmissen war.

      Der Kaspar war weithin beliebt und geachtet. Wenn er so daherkam, spottlustig, mager, zäh und ein bissei krummhaxert, mit der verschmitzten Freundlichkeit auf dem in tausend Falten gegerbten Gesicht, verströmte er eine Sicherheit, die Vertrauen einflößen musste.

      In der Frühe hatte sich die Gesellschaft nahe dem prächtigen Königsgut Kaltenbrunn versammelt. Die Gäste genossen gebührend den weiten Blick über den See auf die Blauberge, hinter denen der Unnütz im Tiroler Achental hervorragte. Zum Betrachten reichte man ihnen die neueste Attraktion der Naturschwärmer, farbige Gläser, durch die das Panorama überraschende Varianten gewann.

      Dann waren die Herren zu Pferde, der Belgier und die Damen in Wagen, am Finnerhof vorbei zum Rohnbognerhof hinaufgezogen, neben dem das Gebäude der Ölkapelle steht. Während die Treiber von den Hofjägern auf ihre Plätze gewiesen wurden, zeigte man den