Heute bedeutet die Kombination aus sozialer Fragmentierung und blitzschneller Kommunikation, dass wir allein, als Individuen, mit diesen verrückten Menschen umzugehen haben, uns in einem rechtsfreien Leerraum mit diesen Narzissten herumschlagen müssen. Und sie gedeihen in solchen Umgebungen ungezügelt. Sich allein mit ihnen auseinanderzusetzen, ist vergeblich: Versuche nie, mit einem Schwein zu ringen, besagt ein altes Sprichwort, denn am Schluss seid ihr beide besudelt, aber das Schwein fühlt sich wohl dabei. Für Narzissten gelten die grundlegenden Regeln des zwischenmenschlichen Handelns nicht, obwohl sie sie gegen alle anderen ausspielen.
Wie in den meisten Gesellschaften gehören auch in der Aborigines-Gesellschaft Respekt und das Anhören aller Standpunkte während eines Yarn zu den grundlegenden Verhaltensregeln. Narzissten fordern dieses Recht ein, erlauben aber keine anderen Standpunkte mit der Begründung, dass jede abweichende Meinung irgendwie gegen ihre Redefreiheit verstoße oder beleidigend sei. Sie zerstören die grundlegenden auf Wechselseitigkeit beruhenden gesellschaftlichen Vereinbarungen (die es ermöglichen, ein auf der Großzügigkeit des Miteinander-Teilens beruhendes Ansehen zu gewinnen, um sich anhaltender Verbundenheit und Unterstützung zu versichern), indem sie diese der Harmonie geltenden Rahmenbedingungen mit wenigen Worten hässlichen Geredes zertrümmern. Sie pflegen eine Doppelmoral und reißen Systeme des Gebens und Nehmens so lange ein, bis alle Angehörigen einer sozialen Gruppe nur noch isoliert sind und sich in darwinistischen Kämpfen nach Macht und schrumpfenden Ressourcen aufreiben, die alles zerstören. Dann gehen sie an den nächsten Ort, zur nächsten Gruppe. Es dürfte nicht schwerfallen, dieses Muster auf globale und historische Verhältnisse zu übertragen.
Wir besitzen Geschichten über dieses Verhalten, Gedenksteine, die in der Landschaft entlang der Traumpfade verstreut sind, Opfer und Missetäter, nach epischen Kämpfen in Steine verwandelt, die nun für alle Zeiten als warnende Legenden dienen. Clancy McKellar brachte mich an eine Stelle, wo drei Brüder, die Frauen entführt hatten, bestraft und in Steine verwandelt worden waren. Die überall in Tibooburra stehenden roten Felsen sind Menschen, die in Steine verwandelt wurden, weil sie das Gesetz gebrochen oder mit Ritualen zur Wetterbeeinflussung zu viel Chaos angerichtet hatten. In den Steinen ist Gesetz und Wissen über das Gesetz. Jeder Gesetzesbruch rührt aus diesem ersten bösen Gedanken, aus der Ursünde, sich über das Land und über andere Menschen zu stellen.
In unseren traditionellen Gesetzessystemen bedenken wir jedoch, dass von Zeit zu Zeit jeder einmal ein Idiot ist. Die Bestrafung ist hart und erfolgt umgehend, aber danach gibt es kein Strafregister, keinen Groll gegen den Missetäter. Gesetzesübertreter sind nur Kriminelle, solange sie nicht bestraft sind; danach können sie wieder Respekt erlangen und von Neuem beginnen, zum Wohl der Gruppe beizutragen. So wird verhindert, dass die Menschen lügen oder die Schuld anderen zuschieben oder der Bestrafung zu entgehen versuchen, indem sie die Regeln verdrehen, um sich ihrer Verantwortung zu entziehen. Sie dürfen einen Neuanfang erwarten und sind deshalb bereitwillige und gleichberechtigte Teilnehmer ihrer eigenen Bestrafung und Verwandlung, die vor allem ein Lernprozess ist.
Vielleicht ist dies ein Aspekt, der sich lohnt, aus unseren Stein-Geschichten übernommen zu werden, um heutige Justizsysteme effektiver und nachhaltiger zu machen. Jene alten, über das ganze Land verteilten und in Steinen verewigten Kriminellen sind keine verwerflichen Figuren, sondern respektierte Wesen, die ihre Bestrafung erhalten haben und nun in ihrer Rolle als Gesetzeshüter verehrt werden. Wenn wir sie respektieren und ihre Geschichten anhören, haben sie uns einiges über das Wie eines besseren Zusammenlebens zu sagen.
Wirklich viel aber weiß ich nicht über Felsen. Ich fühle mich eher in der offenen Savanne und den trockenen Hartlaubwäldern zu Hause, und mein Geschichtsort (Story Place) besitzt nur einen einzigen Stein, der sich nach eigenem Gutdünken bewegt und sich bei jedem Besuch an einer anderen Stelle befindet. Er kam, von einem Zyklon hierher verfrachtet, aus Asien und ist nie so richtig zur Ruhe gekommen; er lebt nicht das langsame Leben anderer Steine. Ich muss mich also mit jemanden austauschen, der wirklich versteht, wie Steine funktionieren. Wie üblich finde ich das einsichtigste Wissen in den randständigsten Betrachtungsweisen. Ich spreche mit einem jungen tasmanischen Aborigine-Jungen namens Max.
Max hat silbriges weißes Haar und alabasterfarbene Haut. Er sieht aus und spricht, als wolle er anstelle eines australischen Arbeitspferds einen Drachen reiten. Er ist ein echter Nerd, der einfach so Hunderte Nachkommastellen von Pi auswendig lernt, glaubt, seine Kampfkünste seien besser, als sie es wirklich sind, und ein enzyklopädisches Wissen über Elfen, Hobbits und Superhelden mit sich herumträgt. Zudem schreibt er Lieder in der Sprache seiner Vorfahren, die mich zum Weinen bringen.
Wir haben viel Zeit damit verbracht, uns im traditionellen Kämpfen zu üben, das früher mit Steinmessern ausgetragen wurde. Die Regeln sind so, dass man seinem Gegner nur an den Armen, Schultern oder am Rücken (sehr schwierig) Schnitte zufügen darf – und der Clou des Ganzen: Wenn der Kampf zu Ende ist, müssen dem Gewinner die gleichen Schnitte zugefügt werden wie dem Verlierer, sodass keiner der beiden mit einem Groll aus der Kampfbahn geht. Es ist schon äußerst schwierig, seinem Gegner in den Rücken zu schneiden, wenn er dir das Gleiche antun will, aber noch schwieriger ist es, wenn man weiß, dass man bei jedem Schnitt, den man ihm zufügt, sich letztlich selbst schneidet. In den Yarns, die solchen Übungsrunden folgten, sind wir uns einig geworden, dass diese Art der Auseinandersetzung einen zwingt, sich in den Widersacher hineinzuversetzen, und es am Ende unmöglich ist, sich als Gegner zu betrachten, weil man durch gegenseitigen Respekt und wechselseitiges Verständnis miteinander verbunden ist. Weitere Lektionen, die einem die Steine erteilen – aber wie sie heute in die Praxis umsetzen? Klingt doch ganz nach einer guten Gelegenheit, ein Gedankenexperiment durchzuführen.
Ich denke, wenn man sich eine aktuelle, auf permanenten Krieg ausgerichtete Wirtschaftsweise vornehmen und versuchen wollte, sie nachhaltig zu gestalten, könnte man ähnliche Wettkampfregeln anwenden. In dem Steinmesser-Modell allerdings sind die Feinde keine erneuerbare Ressource, und irgendwann würde es keine mehr geben. Für die Kriegsmaschine wäre es deshalb alles andere als nachhaltig, würden sich alle Seiten in ihren Betrachtungsweisen gegenseitig respektieren. Die übertragbare Weisheit besteht hier wohl einfach darin, dass die meisten jungen Männer, um den schrecklichen Narzissmus zu beschneiden, der sie überfällt, wenn ihre Schamhaare zu sprießen beginnen, etwas Herzhafteres als Achtsamkeitskurse benötigen. Vielleicht würden sie dann gar nicht in die Verlegenheit kommen, zu Männern heranzuwachsen, die Kriege anzetteln.
Dies bringt uns zurück auf den Grundfehler, auf die luziferische Lüge: »Ich bin besser als du; du bist schlechter als ich«. Weil sein Aussehen nicht der Vorstellung entspricht, die manche Leute mit seiner kulturellen Identität verbinden, ist Max täglich mit auf diesem Denkfehler beruhenden Beleidigungen konfrontiert. Aufgrund dieses grundsätzlichen Mankos wird seine Identität sowohl von Aborigines als auch von Nichtaborigines angezweifelt; sie stellen sich selbst in eine Besser- als-Position und ziehen aus der Beurteilung seiner Existenz einen kleinen Kick. Max macht sich Gedanken über diese Begegnungen und kommt meist zu dem Schluss, dass diesen Leuten eine eigene authentische Identität fehlt und sie deshalb Trost darin finden, die seine anzugreifen.
Max weiß vielleicht nicht alles über seine Abstammungslinie oder seine Kultur, die von einem katastrophalen Genozid zerstört wurde, aber er weiß, wer er ist, und die Bruchstücke kulturellen Wissens, die ihn prägen, sind unverfälscht und haben ihren Wert. Er wendet die in diesen Fragmenten aufscheinenden Muster auf alle Aspekte des Alltagslebens an.
»Ich weiß nicht, was ich ohne meine Identität wäre, denn ich kenne eigentlich kein Leben ohne sie. Ich kann keinen Unterschied machen zwischen dem, was in mir indigen und was nicht-indigen ist, denn alles, was ich tue, ist indigen geprägt – die Art, wie ich mich durch die Welt bewege, mich gegenüber anderen verhalte, die Art, wie ich über alles nachdenke. Egal bei welcher Gelegenheit, es dringt dir aus allen Poren.«
Max