Prinz der Wölfe. Dave Gross. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Dave Gross
Издательство: Bookwire
Серия: Pathfinder Saga
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783867622783
Скачать книгу
der kleine Finger. Schon zum dritten Mal seit unserer Ankunft blickte er hinunter auf seine Armbrust.

      Ich wies auf den dritten Mann.

      „Klar, Luka“, sagte Radovan nüchtern. „Aber was hat er verbrochen?“

      „Pferdediebstahl“, sagte ich. „Er kennt die Tiere gut, und die traditionelle Bestrafung in Ustalav für Diebstahl ist das Brandmarken des Handrückens.“

      Radovan nickt anerkennend. Es war keine besonders scharfsinnige Schlussfolgerung, doch ich gab ihr mit genügend Selbstbewusstsein Ausdruck, dass er beeindruckt war.

      „Daraus kannst du eine Lehre ziehen“, sagte ich. „Solch ein Brandmal würde dich daran hindern, dich in bestimmten Kreisen zu bewegen.“

      Gewöhnlich gibt Radovan nur wenig preis, doch ich bemerkte, wie er leicht den Unterkiefer anspannte. Er nickte, sagte jedoch nichts. Es gab Zeiten, in denen dies ausgereicht hätte, um das Einvernehmen zwischen uns zu bestätigen, doch ich wollte Klarheit schaffen.

      Ich sagte: „Ich nehme an, dass Nicola seine verlorengegangene Börse inmitten des Gepäcks auffinden wird.“

      Radovan betrachtete die Sonne, die gerade hinter dem Horizont aufgetaucht war. „Ich bin überrascht, dass er das noch nicht hat.“

      In glücklicheren Tagen hätte er mich vielleicht mit einer schlagfertigen Erwiderung amüsiert, doch meine Ermahnung machte ihm zu schaffen. Möglicherweise lag der Fehler bei mir, da ich über die Jahre eine solche Formlosigkeit zugelassen hatte.

      Für derartige Gedanken war es zu spät. Ich konnte meine Gäste nicht länger warten lassen, also rief ich Nicola mit einem Fingerschnippen zu mir, und wir bestiegen die Kutsche. Nur Augenblicke später ließ der angeheuerte Kutscher die Zügel knallen, und wir begannen unsere Fahrt gen Norden in das Herz von Ustalav.

      Es gibt nichts Bequemeres für eine Überlandfahrt als die rote Kutsche. Seit dem Tag meiner Geburt hielten vier Generationen von menschlichen und Halblingdienern die Kutsche instand, dennoch musste sie nie repariert werden. Auch ist ihre glänzende Farbe nie verblasst. Erstaunlicherweise mussten weder die Federn noch die Räder je ersetzt werden, wenn ich auch Letztere als jährliche Instandhaltungsmaßnahme mit neuem Stahl hatte beringen lassen. Das Innere der Kutsche ist wie ein kleiner Salon eingerichtet. Die gegenüberliegenden Sitze sind mit dickem Leder aufgepolstert worden und so bequem wie jeder Sessel. Sie verbergen geräumige Aufbewahrungs­fächer, in denen die Dienerschaft meine Habseligkeiten untergebracht hatte, um auf dem Dach Platz für das Gepäck meiner Gäste zu schaffen. Die breiten Fenster sind noch immer mit dem ursprünglichen Glas bestückt. An ihren Seiten geben kleine verzauberte Lampen bei Berührung ihr Licht ab. Leider schien niemand sonst aus meiner Reisegesellschaft den Komfort so zu schätzen wie ich.

      Um es Tara noch bequemer zu machen, zog ich die Vorhänge auf, doch Kasomir gestattete keine weitere Fürsorglichkeit. Sobald Tara einzuschlummern begann, überraschte er mich jedoch damit, dass er sich zu mir nach vorne beugte, um mit mir ein Gespräch zu führen.

      „Vergebt mir, Euer Exzellenz“, sagte er. „Ich fürchte, Euch beleidigt zu haben. Die Sorge um die Gesundheit meiner Base ...“

      „Denkt Euch nichts dabei“, sagte ich, wie man es so tut. „Ich hoffe, die Reise wird ihren Zustand nicht verschlimmern.“

      „Zustand?“, fragte er schelmisch. „Was meint Ihr mit …?“

      „Ihre angeschlagene Gesundheit“, antwortete ich.

      „Ach“, sagte er. „Ich bitte Euch um Verzeihung. Caliphas ist die ­Wiege der Verleumdung in unserem Land, und die Ankunft meiner ­Base hat zu allerlei höchst abscheulichen Spekulationen unter unseren Standesgenossen geführt.“

      „In der Tat.“

      „Aber Ihr braucht mich nicht, um euch in dieser Beziehung zu belehren“, fuhr er fort. „Ich nehme an, dass auch Ihr die spitzen Zungen in Caliphas zu spüren bekommen habt.“

      Ich nickte, weniger zur Bestätigung als mehr, um ihn zum Fortfahren zu ermutigen. Einen gedehnten Augenblick lang tat er dies nicht, und ich ließ das Schweigen an ihm nagen.

      „Gräfin Caliphvaso sieht sehr gesund aus“, meinte er.

      „Allerdings“, bestätigte ich.

      „Wenn ich recht informiert bin, kennt Ihr sie seit geraumer Zeit.“

      „Dem ist so. Wir begegneten uns, als ich auf meinem Weg zur Universität von Lepidstadt war, um einige Nachforschungen anzustellen.“

      „Ah, dann müsst ihr mit Meister Nagrea bekannt sein, dem Fechtlehrer.“

      Nun verstand ich, in welche Richtung Kasomir die Unterhaltung zu lenken beabsichtigte. Als ich an der Universität weilte, überredeten mich einige meiner Kommilitonen dazu, an einem traditionellen Brauch zur Feier ihres Abschlusses teilzunehmen. Nach der Komplettierung ihres Fechtunterrichtes bringen die Studenten ihre Rapiere und große Mengen Wein auf eine hochgelegene Klippe über dem Fluss. Dort stellen sie sich nacheinander mit ihren Fersen am Rand des Abgrundes auf und tragen dabei nur ein stählernes Visier, um ihre Augen zu schützen. Einer nach dem anderen prüfen ihre Kameraden ihre Kampffertigkeit und ihren Mut. Die Herausforderer müssen sich zurückziehen, sobald der Verteidiger ihnen eine Wunde, üblicherweise einen leichten Kratzer am Arm, zugefügt hat, doch erst nachdem der Verteidiger einen Streich im Gesicht erlitten hat, erlaubt ihm die Ehre, seinen Posten zu verlassen. Die Kameraden des Siegers erheben ihre Gläser auf ihn und gießen Wein auf die frische Wunde, um sicherzustellen, dass eine Narbe zurückbleibt. Unter den Adligen von Ustalav ist die Lepidstadtnarbe berühmter als ein gräfliches Siegel.

      „Nein“, antwortete ich. „Eventuell fand mein Besuch vor seiner Amtszeit statt.“

      „Ah“, machte Kasomir und musterte mein Gesicht. Er hatte zweifellos von Anfang an bemerkt, dass ich weder die berühmte Narbe noch ein Schwert trug. Versuchte er, mich zu provozieren? Es schien mir eine solch plumpe List zu sein, dass ich eine dermaßen offensichtliche Erklärung anzweifelte, dennoch sagte er nichts mehr, bis wir am Mittag eine Rast einlegten.

      Kasomir begleitete seine Base bei einem Spaziergang rund um unser Lager am Straßenrand, während Nicola die Zubereitung eines kalten Mittagessens in die Wege leitete. Ich fand Radovan unter den Wachmännern, die Nicolas Kommandos entgangen waren. Die Einheimischen brachten ihm varisische Redewendungen bei, während sie sich ausstreckten, um die Schmerzen der Reise zu lindern. Zunächst war ich enttäuscht zu hören, dass die meisten dieser Ausdrücke Prahlereien und Beleidigungen in ländlichem Dialekt waren, die den Grundlagen des sauberen Varisisch zuwiderliefen, welches ich versucht hatte, meiner Dienerschaft während unserer Reise von Cheliax nahezubringen. Jedoch würde sich der vulgäre Dialekt für Radovan zweifelsohne als nützlich erweisen, wenn er mit den niederen Klassen in Kontakt kam.

      Ich sah zu, wie Radovan einen seiner berühmten Tricks vorführte. Er und Grigor, der langhaarige Bogenschütze, standen ungefähr zwanzig Schritte voneinander entfernt, jeder leicht versetzt vor einer Birke, und beide hielten ein Messer aus Radovans Stiefelschäften seitlich in der Hand. Seit ich darauf bestanden hatte, sie als Vorbereitung für unsere Expedition versilbern zu lassen, beschwerte sich Radovan darüber, dass die Balance verlorengegangen sei, und hatte bei jeder sich bietenden Gelegenheit das Werfen mit ihnen geübt. Auf dem Boden zwischen ihnen lagen einige Silbermünzen – ihr Einsatz. Luka, der an der Seite stand, zählte rückwärts: „Drei … zwei … eins!“

      Gleichzeitig warf jeder sein Messer in Richtung des Baumes des anderen. Radovans drang zwei Zoll tief in das Birkenholz ein, und nur einen Augenblick später fing er das Messer seines Gegenübers auf und schleuderte es zurück. Nur einen Zoll über dem ersten Messer blieb es zitternd stecken.

      „Ein kleiner Trick, den ich unten in der Aalgasse gelernt habe“, erklärte Radovan ihnen auf Taldani.

      Die Wächter murmelten anerkennend, sogar Grigor, der seine Wette verloren hatte.

      Ich trat vor, um mitzuteilen, dass ich es vorzog, Kavapesta mit der gleichen Anzahl Finger zu erreichen, mit der wir Caliphas