Was wir erben. Björn Bicker. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Björn Bicker
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783888978395
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leer. Los, mach schon, rief ich. Er setzte sich in Bewegung. Nach ein paar großen und viel zu hastigen Schritten rutschte er auf dem Schwimmbadboden aus und fiel auf die Knie. Auf allen vieren kauerte er auf halber Strecke und versuchte, sich wieder aufzurichten. Er merkte gar nicht, dass sein rechtes Bein blutete. Eine Platzwunde. In null Komma nichts hatte sich eine rote Lache auf den weißen Kacheln gebildet. Das Blut lief ihm seitlich am Schienbein entlang über den Fuß auf den Boden. Und dann richtete er sich wieder auf. Die Zuschauer standen unfreiwillig Spalier. Holger kniete sich neben den Mann. Ich ging hinterher und stellte mich zu den Zuschauern. Was ist passiert, fragte er die Trainerin. Er war weg, plötzlich war er einfach weg. Was ist das? Herzinfarkt? Schlaganfall? Machen Sie doch was. Holger zitterte. Er versuchte, den Mann anzusprechen. Keine Regung. Das haben wir doch schon alles probiert, sagte eine der Alten. Lassen Sie mich mal machen, zischte Holger nach oben. Erst mal Seitenlage, wies er an. Sie drehten ihn auf die Seite, er und die Trainerin, dabei stützte er den Mann mit seinem verletzten Knie und verschmierte das Blut auf Bauch und Rücken des Bewusstlosen. Als Holger merkte, dass das Blut von ihm stammte, zuckte er zusammen. Es tut nicht weh, sagte er laut, wie um sich selbst zu beruhigen. Woher wissen Sie das, schrie ihn die Trainerin an. Ich meine das Knie, das Knie, mein Knie tut nicht weh. Holger sah sich hilfesuchend um. Unsere Blicke trafen sich kurz. Ich sah, dass Holger verzweifelt war. Wie ein Kind, das sich noch nicht selbst die Schuhe binden kann, aber weiß, dass es mit offenen Schuhbändern nicht loslaufen darf. Mama! Holger griff mit der Hand in den Mund des alten Mannes. Er kramte die Zunge hervor und mit der Zunge kam eine ganze Ladung Kotze raus. Los, schrie er, auf den Rücken drehen. Es geschah, wie er befahl. Holger fing sofort damit an, den Brustkorb des Mannes rhythmisch zu bearbeiten. Immer wieder: Herzmassage. Das Blut, das aus Holgers Wunde lief, mischte sich mit dem Erbrochenen und dem Schwimmbadwasser auf den Kacheln. Um ihn herum hatte sich ein rosafarbener See mit grünen Kotzschlieren gebildet. Holger beugte sich zum Gesicht des Mannes, er hielt sein Ohr an dessen Mund. Er wollte spüren, ob er noch atmet. Er nahm schließlich das fahle Gesicht des Alten, presste dessen Wangen mit Daumen und Mittelfinger zusammen und drückte ihm seinen Mund auf die blauen Lippen. Dabei hielt er dem Mann mit der anderen Hand die Nase zu, damit die Luft, die er ihm in die Eingeweide pumpte, nicht aus den Nasenflügeln wieder entweichen konnte. Er blies mit voller Wucht in den Alten hinein. Ein Mal, zwei Mal. Drei Mal. Nichts passierte. Ich sah, dass Holger immer unruhiger wurde. Er versuchte es immer und immer wieder. Dann zuckte der Mann plötzlich, er röchelte. Ein flüchtiger Anflug von Hoffnung zog über Holgers Gesicht wie der Schatten einer Wolke. Holger setzte wieder an mit der Reanimation. Das Röcheln schien nur ein trügerisches Lebenszeichen gewesen zu sein, ein letztes Aufbäumen. Der Kopf des Mannes war längst knallrot angelaufen. Die Augen platzten hervor, gelber Sud quoll aus dem Mundwinkel. Er zuckte nicht mehr. Er lag regungslos da, sein Gesicht wechselte die Farbe. Von Rot nach Grün. Ende. Holger nahm seine Hände vom Körper des Mannes und sank nach hinten. Die Unterarme ruhten schlaff auf seinen Oberschenkeln. Keiner sagte ein Wort. Absolute Stille. Selbst die aufgeregten Rentnerinnen hielten die Klappe. Kein Kindergeschrei, nichts. Kurz darauf traf der Notarzt ein. Er versuchte es noch ein paarmal mit Stromstößen aus dem Defibrillator, aber die Sache war gelaufen.

      Am Abend beim Essen stocherte Holger mit der Gabel in seinen Nudeln herum. Dann hob er den Kopf und schaute mich an. Er hatte wässrige Augen. Der ist mir unter den Fingern weggestorben, sagte er. So hilflos wie in diesem Moment hatte ich Holger noch nie zuvor erlebt. Du hast dein Bestes gegeben, wollte ich ihn trösten, selbst der Notarzt konnte nichts mehr machen. Holger schob den Teller mit den Nudeln und der Steinpilzsauce in meine Richtung. Er war blass. Ich fragte ihn, wie der Alte geschmeckt hat. Wie hat sich das angefühlt, einen Toten zu küssen? Mein Knie tut weh, antwortete Holger. Ich will ins Bett. Wir sollten bald wieder ins Olympiabad gehen, sagte ich, damit wir die Bilder loswerden.

      Das ist drei Wochen her. Und jetzt sitze ich da mit dem Foto, das Du mitgebracht hast. Der Vater vor der Schwimmhalle. 72.

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