ÄH
Ich musste mein Büro aufräumen. Ich sortierte Wörter. Wenn man als Autor nicht täglich Wörter aufräumt, findet man sie nicht, wenn man sie braucht. Man muss zum Beispiel »Liebesglut« schreiben und kann es nicht, weil »Liebesglut« unter Zeitungen verborgen liegt. Dann schreibt man statt »Liebesglut« etwa »Feuer der Zuneigung«, aber das ist was anderes.
Viel Schwaches in der Literatur rührt daher, dass Autoren nicht aufräumen und sich mit dem behelfen müssen, was gerade daliegt. Es gibt Schriftsteller, die produktiver wären, wenn sie nicht dauernd passende Wörter suchen müssten. Irgendwo fand ich ein Äh und ein Ähm. Sind das eigentlich Wörter?, dachte ich. Oder nur Laute?
Ich weiß nicht, ob Sie die psycholinguistische Debatte in den USA und Großbritannien verfolgen … Sehr interessant. Man hat dort lange Äh und Ähm (im Englischen Uh und Um) nicht als Bestandteile der Sprache gesehen, eher als Geräusch oder Sprech-Abfall.
Dann haben Forscher den Fluss der Sprache untersucht. Und heute finden sie, Äh und Ähm seien normale Wörter. Das eine signalisiere eine kurze, das andere eine längere Pause im Redestrom.
Und dann, hier, Folgendes, ein Aufsatz in Bild der Wissenschaft, das Äh betreffend: Schottische Experten maßen die Stromspannung auf der Kopfhaut von Versuchspersonen und stellten fest, dass ein gut platziertes Äh es dem Zuhörer erleichtert, sich auf überraschende, schwer verständliche Wörter einzustellen. Er wird aufmerksamer. Auch hilft das Äh ihm, sich später an das Wort zu erinnern.
Liz Shriberg, eine Psychologin aus Kalifornien, sagte dazu vor Jahren, wenn man erkenne, wie sauber Äh und Ähm in Sätzen verteilt seien und dabei »eine sehr elegante Struktur haben, sieht man, dass sie überhaupt kein Müll sind«. Sondern Wortstoff.
Übrigens: Elegante Struktur …
Werfen diese Untersuchungen nicht auch, lange nach seiner Amtszeit als bayerischer Ministerpräsident und CSU-Vorsitzender, ein neues Licht auf die Sprachführung unseres lieben Edmund Stoiber? Der mit seinem Äh in einer Weise unvergesslich geworden ist, dass unsere Kopfhäute sich noch in Jahrzehnten spannen werden, wird sein Name genannt. Wer die Verwendung des Äh durch Stoiber bei seinem legendären Christiansen-Auftritt im Januar 2002 noch mal unter die Lupe nimmt, wird hier eines Variantenreichtums und einer Eleganz gewahr, bitte … Ich möchte jetzt einen Beitrag zum psycholinguistischen Diskurs leisten, indem ich eine Systematisierung des Äh-Einsatzes bei Stoiber vorlege.
Das einleitende Äh: »Äh, es geht doch nicht darum …«
Das Äh im Satz: »Ich glaube, dass, äh, viele …«
Das Doppel-Äh im Satz: »Das hat, äh, äh, verschiedene Aspekte …«
Das einfache, Wort einrahmende Äh: »Wir schaffen das, äh, mit, äh, Schwierigkeiten …«
Das doppelte, Wort einrahmende Äh: »… Herr Merz, äh, äh, Frau, äh, äh, Frau Merkel …«
Das einfache, mehrere Wörter einrahmende Äh mit Wiederholung des Eingerahmten außerhalb der Einrahmung: »… äh, zahlen sie, äh, zahlen sie die Zeche …«
Das einfache, Wörter einrahmende Äh mit Wiederholung des Eingerahmten innerhalb der Einrahmung: »… äh, dass wir, wir, wir, dass wir natürlich uns vernünftig, äh …«
Das einfache, Silben einrahmende Äh mit Vernichtung der eingerahmten Silbe: »… die 209 Milliarden DM, die, äh, ver-, äh, für Fort-, die, den Solidarpakt, also das bitte ich …«
Das doppelte, Wörter einrahmende Äh mit Wortwiederholung und einem Wort innerhalb des zweiten Äh, Äh: »… das ist noch lange nicht abschließend, äh, äh, abschließend, äh, damit, äh, befunden …«
Das ins Wort eingesprungene einfache Äh mit Anlauf: »… von, von, von, von Ost nach West-, äh, -deutschland.« Das ins Wort eingesprungene einfache Äh mit Wiederholung eines anderen Wortes in diesem Wort, ohne Anlauf: »… zwei Prozent des, äh, Brutt-, äh, des, des, des Bruttosozialprodukts …«
Das mehrmals in den Satz gestreute Äh, mit Wiederholung von Satzbestandteilen und einer falsch angeredeten Person in der Einrahmung: »Wir liegen mit 5,8 Prozent, äh, wenn Deutschland, äh, bei 5,8 Prozent Arbeitslosigkeit läge, dann hätten wir viele Probleme nicht, also ich glaube, dass Sie nicht unbedingt jetzt den Spitzenreiter oder den Zweiten…, ja, Frau Merkel, ich bin, Frau…, Sie sehen, Sie sehen, Sie sehen, wie, Entschuldigung, aber Sie sehen, wie eng, ich hab auch heute zweimal mit ihr telefoniert, wie eng wir natürlich auch, äh …«
Schließlich das vierfache, ins Wort eingesprungene Äh mit vierfacher, ins Äh eingesprungener Wiederholung eines anderen Wortes – mit Anlauf (nie vorher wurde so etwas versucht!): »… jetzt schreiben die großen Firmen, ob das British Telecom, ob das VIAG, ob das Telek-, äh, die, die, die, die, äh, äh, äh, die große deutsche Gesellschaft ist, Herr Sommer, der schreibt jetzt ab…«
Ganz groß. Ein Rhythmiker. Ein Sprachmusiker. Ein Virtuose des Äh.
ALPENHAUPTKAMM
Gott, wie ich dieses Wort mag! Alpenhauptkamm. Manchmal bilde ich mir ein, ich wohne nur deswegen in München, weil ich in Norddeutschland dieses Wort viel zu selten hören würde. Denn für die Menschen in den Tiefebenen sind ja die Haupt- und Nebenkämme der Alpen weitgehend bedeutungslos. Ob es auch einen Pyrenäenhauptkamm oder einen Karpatenhauptkamm gibt? Egal, es wäre bedeutungslos. Rein klanglich nicht zu vergleichen. Nur der Alpenhauptkamm hat dieses über die Vokale A, e, au und die Konsonanten l, p, n und h sich langsam Erhebende, dann plötzlich steil zum schmalen, scharfen Grat des -ptk-Emporschnellende, schließlich weich ins Bett des -amm Hinunterfallende.
Alpenhauptkamm. Man hört das oft im Wetterbericht.
Da fällt mir der Brief von Herrn E. aus Göppingen ein. E. verfolgte Anfang März 2006 den Wetterbericht im Bayerischen Fernsehen und hörte dort, dass »die Niederschläge zunehmend weniger« würden, eine Wortwahl, die mich an einen pubertierenden Neffen erinnert, mit dem zusammen ich einmal ein Lokal betrat, in dem sich fast keine Gäste befanden, was meinen Neffen zu der Bemerkung veranlasste: »Ist ja voll leer hier!«
E. indessen dachte nach diesem Wetterbericht über einen Kurzurlaub in Südtirol nach, bis, so schreibt er, das Fernsehen einige Tage später berichtete, dass es »die Sonne südlich des Alpenhauptkamms immer öfter schaffen würde, sich vor die Wolken zu schieben«. E. war alarmiert: die Sonne vor den Wolken! Südlich des Alpenhauptkamms! In Südtirol! Er verzichtete auf seinen Urlaub, »dieser brandgefährlichen Lage wollte ich mich dann doch nicht aussetzen«. Fast wundert es einen, dass es heute südlich des Alpenhauptkammes überhaupt noch Leben gibt, ja, dass – im Gegenteil – gerade in der Nähe des Alpenhauptkammes das Leben sich in einer Weise intensiviert, nein: extensiviert zu haben scheint, sodass es zum Beispiel in Arosa der Firma B.Hilty, Heizung, Sanitär, Lüftung, Haustechnik möglich ist, einen »25h Service« anzubieten, wie mir Leserin P. mitteilte und durch Foto des Firmenwerbeschildes auch belegen konnte.
ALTGERT
Von Herrn H. aus München bekam ich ein Foto geschickt: Man sieht darauf einen großen gelben Müllcontainer mit der Aufschrift »Männer«, wie er sich laut Auskunft von H. in der Gemeinde Zell unter Aichelberg befindet. Und man staunt: dass hier am Fuße der Schwäbischen Alb offensichtlich Männer problemlos entsorgt werden können beziehungsweise vielleicht sogar einem Recycling zugänglich zu machen sind, auf einer Art Männer-Wertstoffhof. Ich erinnerte mich angesichts dessen an den Kollegen M., der vor vielen Jahren nach seiner Scheidung einen Verein für Gebrauchtmänner ins Leben rief.