»Die Politik … hofft …, dass hohe Wachstumsraten irgendwann das Beschäftigungsproblem lösen werden.
Diese Hoffnung ist vergeblich. Ihr fehlt jede Grundlage. Sie ist wie das Warten auf Godot – er kommt nie. Schon der gedankliche Ansatz ist falsch. Arbeit entsteht nicht durch Wachstum, sondern Wachstum durch Arbeit. Das ist zahllose Male festgestellt worden, hat aber im öffentlichen Bewusstsein kaum Spuren hinterlassen.«28
Warum aber ist diese Hoffnung vergebens? Viele Ursachen kommen hier zusammen, unabänderliche und, bei politischem Willen und politischer Gestaltungsmacht, veränderliche.
Unabänderlich: Steigende Arbeitsproduktivität
entwertet den Faktor Arbeit
Steigende Arbeitsproduktivität, also höhere Produktion je Arbeitsstunde, ist die Grundlage des gewachsenen Wohlstands der Industrienationen. Ohne sie lägen die Löhne heute noch bei wenigen Euro je Stunde. Doch sie hat eine Kehrseite, die sich immer mehr in den Vordergrund schiebt: Je mehr ein Arbeiter pro Stunde produziert, desto weniger Arbeitsstunden braucht er für dieselbe Warenmenge. Gelingt es nicht, den Absatz ebenso schnell zu steigern, wie die Arbeitsproduktivität wächst, braucht man weniger Arbeitsstunden – letztlich also weniger Arbeiter.
Im internationalen Vergleich ist der Kapitaleinsatz in Deutschland besonders hoch. Der Kapitaleinsatz stieg (preisbereinigt) von 1950 bis 2000 pro Erwerbstätigenstunde auf das Siebenfache.29 Hier liegt eine Wurzel für die nicht durch »Wachstum« zu behebende Arbeitslosigkeit.
Miegel bringt die jedermann zugänglichen Fakten meisterlich auf den Punkt:
»Bei einem 25-jährigen jahresdurchschnittlichen Wachstum von real 5,4% schrumpfte das Arbeitsvolumen pro Kopf der westdeutschen Bevölkerung jährlich um gut ein Prozent. Da darf wohl gefragt werden, wie viel Wachstum denn von Nöten ist, um unter den konkreten Bedingungen Deutschlands die Arbeitsmenge stabil zu halten oder gar anschwellen zu lassen. Im dritten Jahrhundertquartal hätte es jährlich annähernd bei sieben Prozent liegen müssen, was einer Verdoppelung der Güter- und Dienstleistungsmenge in zehn Jahren und deren Zunahme auf mehr als das Fünffache in 25 Jahren entspricht.«30
Bringen Steuersenkungen Arbeitsplätze?
Das neoliberale Standardargument für Steuersenkungen zum Zwecke möglichst hoher Gewinne ist der Glaube an die »Angebotspolitik«. Angebotspolitik setzt mit ihren Maßnahmen zur Erreichung gesamtwirtschaftlicher Ziele wie Inflationsbekämpfung und Wachstum auf der Angebotsseite der Wirtschaft an. Wenn Waren oder Dienstleistungen produziert werden, schlägt sich das angeblich in entsprechendem Einkommen nieder, das nach Jean Baptiste Say zu einer kaufkräftigen Nachfrage führe. Nur: Dieser Effekt verschwindet, wenn die Löhne durch den Weltmarktdruck nicht mehr mit der Produktion, dem Sozialprodukt, steigen und darüber hinaus der Faktor Arbeit, in dem die Löhne steigen sollen, durch Kapital ersetzt wird. Und das geschieht immer schneller, je mehr alte Anlagen durch Neuinvestitionen ersetzt werden.
Man sollte deshalb endlich einmal die Fakten zur Kenntnis nehmen: Der Versuch, durch Senkung der Unternehmenssteuern und des Spitzensteuernsatzes Arbeitsplätze zu schaffen, ist heute offensichtlich zum Scheitern verurteilt. Solche Steuersenkungen hatten wir zu Hauf, doch das Wachstum blieb aus.
Der frühere Bundesarbeitsminister Herbert Ehrenberg (SPD) wies daraufhin, dass mit dem »Standortsicherungsgesetz« von 1993 ab 1994 die Körperschaftssteuer von 50 auf 45 und der Spitzensteuersatz für gewerbliche Einkommen von 53 auf 47% gesenkt wurde und gleichzeitig ein Sparpaket mit Kürzungen öffentlicher Leistungen von 21 Mrd. DM in Kraft trat.31 Ein »Programm für mehr Wachstum und Beschäftigung« vom 13. September 1996 brachte im Prinzip die gleiche Maßnahmenkombination aus Senkungen von Unternehmenssteuern und Kürzungen sozialer Leistungen.
»Die Beschäftigung aber reagierte nicht nach der neoliberalen Vorgabe. Von 1992 bis 1997 gab es einen Rückgang der beschäftigten Arbeitnehmer um 1,6 Millionen. Die Nettorealverdienste der Arbeitnehmer gingen in diesem Zeitraum um 7,5 Prozent zurück. Eine leider stimmige Erklärung für das weit hinter der Auslandsnachfrage Zurückbleiben der Nachfrage auf dem Binnenmarkt.«32
Weltmarkt und Arbeitsplätze
Noch weniger als vom Wachstum des Sozialprodukts der BRD profitiert unser Arbeitsmarkt vom Wachstum des Weltmarkts. Schon heute ist vielmehr die Arbeitslosigkeit in den OECD-Nationen parallel zum Wachstum des Welthandels gestiegen.
Freihandel optimiert nun einmal nicht auf Arbeitsplätze. Im Gegenteil. Arbeit ist ein Kostenfaktor. Und Minimierung aller Kosten durch Freihandel ist das Versprechen des Freihandels. Gerade weil der Freihandel das, was er hier verspricht, auch hält, sollte es nicht überraschen, dass in den OECD-Nationen mit ihrem höheren Lebensstandard durch höhere Löhne und Sozialleistungen seit der schnellen Ausdehnung des Welthandels schon viele Menschen aus dem Weltmarkt herausgefallen und die Arbeitslosenzahlen drastisch angestiegen sind.
Export der Industrieländer schafft zwar vielleicht einen Ausgleich in der Handelsbilanz, nicht aber in der Arbeitsplatzbilanz. Denn nur Industrien mit hoher Produktivität können in den Industrieländern bleiben – aber das bedeutet: nur Industrien mit wenig Arbeitskräften pro Milliarde Euro Export.
Die schwarze Kurve in der nachfolgenden Grafik B zeigt, wie Arbeitslosigkeit in den OECD-Nationen von einem Durchschnitt von etwa 8–10 Millionen von 1950 bis 1973 auf einen Durchschnitt von etwa 30–35 Millionen von 1995 bis 2000 gestiegen ist. Die These, freier Welthandel sei auch gut für die Arbeitsplätze in den Industrienationen, ist somit eindeutig widerlegt. Daran ändert sich auch dadurch nichts, dass etwa 20–30% der Arbeitslosigkeit von der Weltkonjunktur abhängen, sie somit mit sinkendem Handel steigt. Entscheidend ist das Niveau des Minimums der Arbeitslosigkeit im Konjunkturhoch, die so genannte strukturelle Arbeitslosigkeit. Die aber stieg in den OECD-Ländern von etwa sieben Millionen um 1970 auf rund 28 Millionen im Jahr 2000.
George Soros:
»Die Konkurrenz hat Unternehmen zur Konsolidierung gezwungen, sie haben sich verkleinert und Produktionsstätten ins Ausland verlagert. Das sind wesentliche Gründe dafür, daß es in Europa eine fortdauernd hohe Zahl von Arbeitslosen gibt.«33
Der genaue Umfang der Verlagerung von Industrie aus der Bundesrepublik heraus ist schwer zu ermitteln. Ist eine in China erbaute VW-Fabrik eine verlagerte Produktion? Oder ist das erst eine in der BRD geschlossene Fabrik, die durch eine Nachfolgerin in China ersetzt wurde? Fest steht aber: Ganze Industrien sind schon weitgehend verschwunden, wie der Radio- und Fernsehgerätebau. Und »das Spiel ist noch nicht zu Ende – Conti stellt die Produktion in Hochlohnländern in Frage/Weitere Verlagerung nur eine Frage der Zeit«35, meldet die Reifenindustrie. Der Skandal um die falschen Abrechnungen der Zahnärzte für ostasiatischen Zahnersatz zeigt, wie weit selbst handwerkliche Fertigung bereits auf der Reise ist.
So bleibt den Bürgern der Bundesrepublik nur, mit Wolfgang Engler festzustellen:
»Die ›Rückkehr zur Vollbeschäftigung‹ ist unter allen zeitgenössischen Legenden die bei weitem populärste – postreligiöses Opium fürs Volk. Das Täuschungsmanöver gründet im Selbstbetrug.«36
Wachstum und Wohlstand
Wachstum des Sozialprodukts ist nicht identisch
mit Zunahme des Wohlstands
Der erste Grund liegt schon in der Definition des Begriffs Sozialprodukt.
Das Sozialprodukt wird definiert als die Summe all dessen, was im Inland in einem Jahr an Waren und Dienstleistungen hervorgebracht worden ist. Diese Summe nennt man genauer das Bruttoinlandsprodukt. Die Summe aller Bruttoinlandsprodukte aller Staaten dieser Welt bildet das Weltsozialprodukt (GDP). Aber was ist denn von diesem Sozialprodukt wirklich