Dieser ist Proust gewidmet, um den man in einer Hommage wohl nicht ganz herumkommt. Nachdem er ihn zu allen anderen Schriftstellern in Beziehung gesetzt hat, von denen er zuvor sprach, hebt Valéry nun doch dessen Besonderheit hervor, ausgehend von der gewiss Proust’schen Vorstellung, dass sein Werk sich auszeichnet durch den »Überfluß an Verknüpfungen, die das geringste Bild so ungezwungen in der eigenen Substanz des Autors fand«. Dieser Fingerzeig auf die Proust’sche Art, die unendlich kleinen Verbindungen jedes Bildes in Szene zu setzen, stellt einen doppelten Vorteil dar. Als Erstes ist es nicht nötig, Proust gelesen zu haben, um dafür empfänglich zu sein, und um dies festzustellen, kann man ihn aufschlagen, auf welcher Seite man will. Darüber hinaus ist dieses Vorgehen strategisch angemessen, da es darauf hinausläuft, den Akt des Herauspflückens selbst und damit also den Verzicht auf das Lesen zu legitimieren.
Tatsächlich kann Valéry sehr geschickt erklären, wie die Anziehungskraft von Prousts Werk mit seiner außerordentlichen Eigenschaft zusammenhängt, dass man ihn auf jeder beliebigen Seite aufschlagen kann:
»Der Reiz seiner Werke ruht in jedem Fragment. Man kann das Buch aufschlagen, wo man will; seine Lebenskraft hängt überhaupt nicht von dem ab, was vorausgeht, gewissermaßen von der erworbenen Illusion; sie beruht in dem, was man die Selbsttätigkeit seines Textgewebes nennen könnte.«[8]
Valérys Geniestreich besteht darin, dass er sich für die Theorie zu seiner Lektürepraxis auf den Autor beruft, den zu lesen er nicht vorhat und der geradezu nach seinem Vorgehen verlangt, sodass der Verzicht auf das Lesen noch das beste Kompliment ist, das man ihm machen kann. Und so macht er denn auch, wenn er in den Schlussfolgerungen seines Artikels die »schwierigen Autoren« würdigt, die bald niemand mehr verstehen kann, kein Geheimnis daraus, dass er, hat er seine Aufgabe als Kritiker erfüllt, genauso wenig wie zuvor die Absicht hat, sich an die Lektüre Prousts zu machen.[9]
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Wenn die Würdigung Prousts Valéry dazu dient, seine Vorstellung vom Lesen darzulegen, so wird ihm ein anderer bedeutender Zeitgenosse, Anatole France, die Gelegenheit bieten, sein wahres Gesicht zu zeigen und diesmal nicht nur auf den Autor, sondern auch gleich noch auf den Text zu verzichten.
Als Valéry im Jahr 1927 als Nachfolger von Anatole France in die Académie Française aufgenommen wird und dadurch in die Verlegenheit kommt, dessen Nachruf zu verfassen, tut er alles, um der Aufgabe, die er sich in der Einleitung seiner Rede selbst stellt, nicht nachzukommen:
»Der einzige Hilfsquell der Toten sind die Lebenden. Unsere Gedanken sind für sie der einzige Weg zum Licht. Die uns so viel gelehrt haben, die offenbar für uns dahingegangen sind und alle ihre Chancen uns überlassen haben, sie seien – so ist es gerecht und unser würdig – ehrfürchtig in unserem Gedenken empfangen, sie mögen ein wenig Leben aus unseren Worten trinken.«[10]
Wollte Anatole France im Gedächtnis oder in einem Text weiterleben, so hätte er einen anderen finden müssen als Valéry, der sich während seines ganzen Vortrags die größte Mühe gibt, ihm nicht zu huldigen. Tatsächlich ist Valérys Rede nichts anderes als eine nicht abreißende Serie von Gemeinheiten gegen seinen Vorgänger, für den er wiederholt das Prinzip des zweifelhaften Kompliments in Anwendung bringt:
»Das große Publikum war meinem ruhmvollen Vorgänger unendlich dankbar, daß er ihm das reizvolle Gefühl einer Oase verschafft hatte. Der erfrischende Gegensatz seiner abgemessenen Schreibweise zu den geräuschvollen und verwickelten Stilarten, in denen ringsumher geschrieben wurde, rief nur angenehme, freundliche Überraschung hervor. Es schien, als seien Ungezwungenheit, Klarheit und Einfachheit auf die Erde zurückgekehrt. Sie sind ja die gefälligen Göttinnen der Mehrheit. Jeder mußte eine solche Sprache lieben, die sich ohne vieles Grübeln genießen ließ, deren gefällige Natürlichkeit verführte, deren Durchsichtigkeit bisweilen wohl einen Hintergedanken durchscheinen ließ, der aber nicht undeutbar, im Gegenteil stets leicht verständlich, wenn auch nicht immer ganz befriedigend war. Seine Bücher bewiesen eine vollendete Kunst, die gewichtigsten Gedanken und Probleme obenhin zu streifen. Nichts behinderte den schweifenden Blick, außer etwa das Erstaunen selbst, keinem Widerstand zu begegnen.«[11]
Einer solchen Dichte an unterschwelligen Beleidigungen auf so wenigen Zeilen begegnet man nicht jeden Tag, wird doch das Werk Anatole Frances nacheinander als »angenehm«, »freundlich«, »erfrischend«, »gemessen« und »einfach« bezeichnet, was in der Literaturkritik schwerlich als Kompliment aufgefasst werden kann. Und darüber gefällt es – ein letzter Fußtritt – möglicherweise allen. Man kann es genießen, ohne zu grübeln, da die Ideen nur »gestreift« werden, eine Einschätzung, die Valéry auch gleich weiter ausführt:
»Was ist auch reizvoller als die köstliche Illusion der Klarheit, die uns ein Gefühl müheloser Bereicherung, sorgenlosen Genießens, achtlosen Verständnisses, kostenlosen Schauspiels schenkt?
Glücklich die Schriftsteller, die die Last des Denkzwanges von uns nehmen und mit leichter Hand ein reizvolles Trugbild um die komplizierte Gestalt aller Dinge weben!«[12]
Stellt Valérys Huldigung auf Anatole France nichts als eine Anhäufung von Gemeinheiten dar, so stimmt der Text durch seine Vagheit umso nachdenklicher, als ob Valéry auf keinen Fall den Eindruck erwecken möchte, er habe Anatole France gelesen, da dies seiner Meinung über ihn widersprochen hätte. Nicht nur nennt er keinen einzigen Titel seines Werks, der Text wird zu keinem Moment auch nur ein bisschen explizit, und er macht nicht die leiseste Anspielung auf eines seiner Bücher.
Schlimmer noch, Valéry hütet sich, auch nur ein einziges Mal den Schriftsteller, auf dessen Sitz er folgen wird, beim Namen zu nennen, sondern verweist nur andeutungsweise durch Wortpiele auf ihn: »Nur in Frankreich, dem er seinen Namen entlieh, war er selbst möglich und anderswo kaum vorstellbar.«[13]
Dass Valéry unbedingt den Eindruck zu vermeiden sucht, er könnte Anatole France gelesen haben, mag vielleicht auch mit dem Hauptvorwurf zusammenhängen, den er ihm macht, nämlich zu viel zu lesen. France, den er als unermüdlichen Leser bezeichnet – was bei Valéry einer Beschimpfung gleichkommt –, ist jemand, der sich, ganz anders als sein Nachfolger an der Académie, in den Büchern verirrt hat:
»Ich weiß wahrhaftig nicht, meine Herren, wie eine Seele bei dem bloßen Gedanken an die unendlichen Stapel von Schriftwerken, die sich in der Welt ansammeln, den Mut bewahren kann. Was gibt es für den Geist Schwindelerregenderes, Verwirrenderes, als die golden geharnischten Wände einer Bibliothek zu betrachten; und was ist Niederdrückenderes zu sehen als die Bücherbänke, jene Brüstungen aus Geisteswerken, die auf den Uferstraßen sich bilden; jene Millionen von Bänden und Broschüren, gestrandet an den Ufern der Seine, wie geistige Wracks, ausgesondert vom Zeitenfluß, der sich ihrer entledigt und sich von ihren Gedanken reinigt?«[14]
Dieser Leseexzess hat bei France zum Verlust seiner Originalität geführt. Denn genau das ist aus Sicht Valérys die Hauptgefahr, die das Lesen für einen Schriftsteller darstellt, weil es ihn in Abhängigkeit zu anderen bringt:
»Meine Herren, das gelehrte, feinsinnige Mitglied Ihrer Vereinigung hat der großen Zahl gegenüber kein Unbehagen verspürt. Sein Geist war widerstandsfähiger. Um sich vor solchem Widerwillen und vor dem Schwindel, den die Statistik erregt, zu bewahren, hatte er nicht nötig, nur sehr wenig zu lesen. Fern von allem Gefühl der Bedrücktheit, regte ihn dieser Reichtum an, dem er soviel Belehrung und glückliche Wirkungen für Art und Bedarf seiner Kunst entnahm.
Man hat nicht unterlassen, ihm hart