Die Faltung der Bögen zeigt, in welcher Weise sie Brief und Umschlag zugleich waren, das dunkelrote getrocknete Siegelwachs an den Aufbruchstellen der Briefe war oft noch vorhanden. Mühsam stolpert man durch die Tabellen, Protocolle, Promemoria und Rescripte – und schließlich trifft man auf die Meyerbriefe der Mooranbauer, aus mittelalterlichen Meyerbauern* hatten sich Erbpächter entwickelt. Kaum etwas ist je verständlich ohne eine Übersetzung all jener Worte, die ihre Bedeutungen längst verändert haben. Und wenn man dann auf die Unterschrift eines Bauern auf seinem Meyerbrief stößt, wird einem die große Kluft deutlich, die zwischen diesen Schriften und ihren Schreibern auf der einen und den Kolonisten auf der anderen Seite geherrscht hat. Die Unterschrift der Bauern besteht nicht selten aus drei Kreuzen, zittrig gemalt wie von Kinderhand – nicht wie ein X, sondern aufrecht gestellt wie Grabkreuze.
Unter den Akten befindet sich auch das schriftliche Hin und Her jahrelanger Prozesse, die bei Beginn der staatlichen Moorkolonisation von benachbarten Gemeinden gegen den Landesfürsten geführt wurden. Schließlich hatten sie von den angrenzenden Mooren selbst Gebrauch gemacht, und es dauerte seine Zeit, bis Gerichte entschieden hatten, es gehöre den Landesherren.
In Vertretung des Landesherrn, der gleichzeitig als britischer König fungierte, also in London saß, wirkten in Hannover die sechs »Geheimen« oder auch »Geheimten Räthe«, die dem Souverän in Abwesenheit seine Geschäfte führten. Zweimal in der Woche gingen reitende Boten aus Hannover nach London zur Deutschen Kanzlei ab. Und seit Beginn der Personalunion 1714 mussten alle drei Monate in Hannover je sechs Pferde vor zwei Kutschen voller Akten gespannt werden. Ohne Unterbrechung fuhren sie in hohem Tempo, wie es die Wege hergaben, außer zum Wechsel der Gespanne an bestimmten Relaisstationen wurde nicht haltgemacht, Zollschranken durften die königlichen oder kurfürstlichen Kutschen ignorieren. Über Nienburg und Wildeshausen gelangte man zum niederländischen Hafen Hellevoetsluis, einem wichtigen Hafen nahe Rotterdam in Südholland. Dort schifften sich die zweimal wöchentlichen Kuriere und Quartalskutschen auf die Paketschiffe ein, dann konnte man nur noch hoffen, einen fähigen Seemann und gnädige Winde zu erwischen, um unbeschädigt in Harwich an Land zu kommen. Das Wetter über Nordsee und Ärmelkanal ging selten sanft um mit den Seglern, die sie befuhren, und natürlich sind während der über hundert Jahre währenden Personalunion auch einige königliche Boten und Botschaften untergegangen. Wenn es aber gut gegangen war, rasten die Kutschen und Kuriere vom Hafen in Harwich direkt weiter nach London und fuhren und ritten dort ein in den Hof des St.-James-Palasts, in dem die Deutsche Kanzlei residierte. Die Reise dauerte eine Woche, in eiligeren Fällen legten reitende Kuriere sie auch einmal in vier Tagen zurück.
Im St.-James-Palast packten eilfertige Diener dann die Aktenberge aus, hannoversche Räte und Sekretäre sortierten sie, und die acht, später nur noch vier höchsten Beamten nahmen sie sich zur Lektüre vor. Sie befassten sich auch mit den Promemoria und Rescripten der Ämter zu den »Moorconferenzen«, mit den Schreiben der Moorkommissare in Sachen Torfstich, Schiffsgräben, Brücken und Wehre, sowohl mit den Kosten der Kolonisation als auch mit den durch sie eingenommenen Steuern. Sie lasen und notierten, verglichen und besprachen. Dann diktierten sie den Brief, den sie den König respektive seinem höchsten Minister – während der Moorkolonisation von 1771 bis 1795 ein Herr von Alvensleben – als Antwortschreiben vorschlugen. Wenn drei Monate später die nächsten Aktenberge aus Hannover in den Palast nach London geliefert wurden, warteten die Entscheidungen, Beschlüsse und Anordnungen der »ehrwürdigen Hoch- und Hochwohlgeborenen Exzellenzen« des Ratskollegiums gut verschnürt darauf, um über Land und Meer an den Stellvertreter im Hannoverschen zurückexpediert zu werden.
War der Bescheid positiv, machten im Umland der Moore die Pastoren von den Kirchenkanzeln bekannt, dass ein neues Dorf gegründet würde, »Anbaulustige« sollten sich an bestimmtem Ort und zu bestimmter Zeit einfinden, um die Bedingungen zu erfahren.
Als auf diese Weise endlich die Gründung eines Dorfs im Bachenbrucher Moor genehmigt war, bewarb sich auch Barthold Lafrenz aus dem nahe gelegenen St. Joost, vierhundert Jahre zuvor ein Wallfahrtsort mitten im Moor, mit seiner Frau Adelheit um eine Meyerstelle. Sie erhielten die Zustimmung zur Ansiedlung und begannen mit der Arbeit an einer Moorkate – genau auf jener Hofstelle, auf der ich zweihundert Jahre später das erste Hochzeitsfest meines Lebens miterlebte. Er war, in der Terminologie unseres Dorfs ›de süerste‹, also der südlich gelegene, nächste Nachbar.
Anfangs mussten sie alle, die Lafrenzens und von Thadens, die Bartenhagens, Offermanns, Wölberns und Struncks, gemeinsam einen breiten, zwei Kilometer langen, tiefen und breiten Graben ausheben, die Wettern. Der Aushub wurde zu einem Weg parallel unserer späteren Dorfstraße, daran entlang steckte man die Hofstellen ab. Wer auf welche Stelle kam, wurde überall in den Mooren durch Los entschieden. Nur der nun schon alteingesessene Wolderich hatte sein Land selbst wählen können und baute als Erster ein richtiges Haus. Alle anderen »Colonaten« errichteten auf ihren Stellen einen leichten Holzrahmen und beschwerten ihn mit Stroh, Torf- und Heidesoden, das erste Dach über dem Kopf. Aber das ging natürlich nur im Sommer gut. Bis zum Winter musste man höher gebaut haben, wegen des hoch stehenden Grundwassers und der Überschwemmungen. An die Erdlöcher, von denen manchmal die Rede ist, glaube ich eher nicht.
Der erste Moorkommissar war Jürgen Christian Findorff, er stammte aus Lauenburg an der Elbe und war ursprünglich Wasserbaumeister und Landvermesser. Seit 1751 war er mit der nordhannoverschen Moorkolonisierung beschäftigt. Er billigte keinesfalls, wenn Moor-Anbauer in Katen lebten – geschweige in Erdlöchern. Seiner Meinung nach sollten die Ämter ihnen gleich am Anfang helfen, richtige Häuser zu errichten. Er wusste aus Erfahrung, wie wenig Aussicht bestand, dass Moorbauern bei schlechten Ausgangsbedingungen aus den ärmlichen Verhältnissen jemals herausfinden und eine rentable Landwirtschaft aufbauen konnten. Findorff hat man gerne eine große Nähe zu den Moorbauern nachgesagt, tatsächlich hat er sogar später selbst eine Anbauer-Stelle übernommen. Aber in erster Linie war er Staatsbeamter und vertrat entschieden das eigentliche Ziel der Kolonisation, nämlich mehr Lebensmittel für die Städte zu produzieren durch die Urbarmachung von Heiden und Mooren. Und auf dem Lande für künftige Steuerzahler zu sorgen.
Die Zuständigkeiten für Pachten, Steuern und Kirchengebühren sind genau erfasst. Sie wurden für unser Dorf in einem einzigen, damals wie heute kaum verständlichen Satz beschrieben. Er lautet übersetzt: »Nachdem man darüber schon vorher mit dem königlichen Ministerium und der königlichen Kammer verhandelt hat, ist jetzt festgelegt worden, dass die Rechtsgewalt über die Anbauer im Bachenbrucher Moor erst einmal auf zwölf Jahre dem Amtsschreiber Nanne in Bremervörde besonders aufgetragen ist; seine Eingaben gehen an die königliche Regierung nach Ratzeburg [i. e. Cuxhaven]; gleichzeitig sind die Anbauer aber wirkliche Hadelsche Untertanen und werden nach den entsprechenden Gesetzen behandelt; sie genießen die entsprechenden Immunitäten und sind in polizeilichen Angelegenheiten – so, wie das Polizeirecht dort vorgibt – dem Kirchspielsgericht, zu dessen Bezirk sie gehören [das war in diesem Fall Steinau], unterworfen, und was die Steuern angeht, müssen sie in dem Maße dazu beitragen, in dem Herrschaftliche Meyer und Anbauer auf staatlichem Land nach Hadelscher Verfassung verpflichtet sind; und was die Pfarrgemeinde betrifft, sollen sie im Hadelschen Steinau eingepfarrt sein; dem Amtsschreiber Nanne wird in dieser Sache der nötige Auftrag des Gerichts zugehen, als auch dem Consistorium das Nötige zugesandt in Hinsicht auf die anzuordnende Einpfarrung eines neuen Dorfs nach Steinau; und so werden hierdurch auch die Herren [Grundeigentümer] davon benachrichtigt, um auch die Stände des Landes Hadeln hiervon in meinem Namen in Kenntnis zu setzen, falls das erforderlich ist, was ich glaube, in kirchlichen Dingen sind sie wie Hadelsche Untertanen Untergebene des Hadelnschen Landeskonsistoriums … Hochachtungsvoll [und den] ehrwürdigen Hochedelgeborenen [ein] ergebener Diener …«1
Die Unterschrift ist unleserlich. Beurkundet ist dieser Vorgang für den 12. November 1783, weshalb das Gründungsdatum des Dorfs mit diesem Schreiben angesetzt wird.
Tatsächlich werden sich die hier aufgezeichneten Zuständigkeiten als einigermaßen kritisch für die Obrigkeiten erweisen – und für die Dörfler immer wieder als