Bald.
In ein paar Monaten.
Schneller, als du denkst.
Das Mädchen ist meine Tochter, der Junge der Sohn meines Mannes. Ich bin die biologische Mutter des Mädchens, die Stiefmutter des Jungen und in der Praxis für beide die Mutter. Mein Mann ist Vater und Stiefvater für jeweils eines der beiden Kinder, aber auch einfach Vater. Folglich sind das Mädchen und der Junge: Stiefschwester, Sohn, Stieftochter, Tochter, Stiefbruder, Schwester, Stiefsohn, Bruder. Und weil Bindestriche und unwichtige Nuancen die Sätze der Alltagsgrammatik verkomplizieren – das wir, das sie, das unser, das euer –, entschieden wir uns, nachdem wir zusammenzogen, als der Junge fast sechs und das Mädchen noch ein Kleinkind war, für das viel schlichtere unsere, wenn wir über die beiden sprachen. Sie wurden: unsere Kinder. Und manchmal: der Junge, das Mädchen. Die beiden lernten rasch die Regeln unserer privaten Grammatik und gewöhnten sich die generischen Substantive Mama und Papa an, oder manchmal nur Ma und Pa. Und zumindest bis heute bestimmte unser Familienlexikon den Rahmen und die Grenzen unseres gemeinsamen Lebens.
FAMILIENPLOT
Mein Mann und ich lernten uns vor vier Jahren bei Tonaufnahmen für eine Soundscape von New York kennen. Wir gehörten zu einem großen Team von Leuten, die für das Center for Urban Science and Progress der New York University arbeiteten. Die Soundscape sollte sämtliche für die Stadt symbolischen Grundgeräusche und Hörmarken stichprobenartig erfassen und sammeln: quietschend zum Stehen kommende U-Bahn-Wagen, Musik in den langen unterirdischen Gängen der Forty-Second-Street, Prediger in Harlem, Glocken, Gerüchte und Gemunkel in der Wall Street. Doch auch alle anderen Geräusche und Klänge, die eine Stadt erzeugt und die meist gar nicht als Lärm wahrgenommen werden, sollten erhoben und eingeordnet werden: auf- und zuspringende Registrierkassen in Delis, ein Text, der in einem leeren Broadway-Theater einstudiert wird, Unterwasserströmungen im Hudson, Schwärme von Kanadagänsen, die auf den Van Cortlandt Park scheißen, schwingende Schaukeln auf Spielplätzen in Astoria, ältere Koreanerinnen, die wohlhabenden Frauen in der Upper West Side die Fingernägel feilen, ein in einem alten Mietshaus in der Bronx ausgebrochenes Feuer, ein Passant, der einen anderen mit Schimpfwörtern überschwemmt. In unserem Team waren Journalisten, Klangkünstler, Geografen, Stadtplaner, Schriftsteller, Historiker, Akustemologen, Anthropologen, Musiker und sogar Hydrografen, die mit komplizierten Geräten wie Mehrstrahl-Echoloten die Tiefe und Konturen von Flussbetten und wer weiß was sonst noch vermessen. Zu zweit oder in Gruppen wurden Wellenlängen in der ganzen Stadt erhoben und gesampelt, als dokumentierten wir die letzten Laute einer gewaltigen Bestie.
Wir zwei wurden zusammengespannt und damit beauftragt, sämtliche in der Stadt gesprochenen Sprachen über einen Zeitraum von vier Kalenderjahren aufzunehmen. Unsere Aufgabenbeschreibung lautete: »eine Erhebung der sprachlich mannigfaltigsten Metropole auf dem Planeten und die Aufzeichnung sämtlicher Sprachen, die ihre Erwachsenen und Kinder sprechen«. Wie sich herausstellte, machten wir unsere Sache gut, vielleicht sogar sehr gut. Wir waren ein perfektes Zweierteam. Nach wenigen Monaten Zusammenarbeit verliebten wir uns – total, unvernünftig, vorhersehbar und Hals über Kopf, wie sich vielleicht ein Stein in einen Vogel verlieben würde, ohne zu wissen, wer der Stein und wer der Vogel war – und im Sommer beschlossen wir, zusammenzuziehen.
Das Mädchen erinnert sich natürlich nicht an diese Zeit. Der Junge behauptet, er erinnere sich daran, dass ich immer eine alte blaue, bis zu den Knien reichende Strickjacke trug, an der ein paar Knöpfe fehlten, und dass ich sie manchmal, wenn wir mit der U-Bahn oder dem Bus fuhren – wo die Klimaanlage immer eiskalte Luft verströmte –, auszog und als Decke benutzte, um ihn und das Mädchen zu wärmen, und dass sie nach Tabak roch und kratzte. Unser Zusammenziehen war eine unbedachte Entscheidung – chaotisch, verwirrend, zwingend und so schön und wirklich, wie das Leben ist, wenn man nicht über die Folgen nachdenkt. Wir wurden ein Stamm. Dann kamen die Folgen. Wir lernten die Verwandten des jeweils anderen kennen, heirateten, gaben gemeinsame Steuererklärungen ab, wurden eine Familie.
BESTANDSAUFNAHME
Auf den Vordersitzen: er und ich. Im Handschuhfach: Versicherungsnachweis, Fahrzeugschein, Benutzerhandbuch und Straßenkarten. Auf der Rückbank: die beiden Kinder, ihre Rucksäcke, eine Taschentuchbox und eine blaue Kühltasche mit Wasserflaschen und begrenzt haltbaren Snacks. Und im Kofferraum: eine kleine Reisetasche mit meinem digitalen Sony PCM-D50 Audiorekorder, Kopfhörer, Kabel und Ersatzbatterien; eine große Porta-Brace-Tasche für seine Teleskopangel, Mikro, Kopfhörer, Kabel, Korb- und Fell-Windschutz, und den Sound Devices 702T. Außerdem: vier kleine Koffer mit unseren Kleidern und sieben Archivschachteln (40x30x25) mit verstärkten Böden und soliden Deckeln.
KOVALENZ
Trotz unserer Bemühungen, alles fest zusammenzuhalten, gab es, im Hinblick auf die eigene Position in der Familie, bei jedem eine gewisse Unsicherheit. Wir ähneln jenen komplizierten Molekülen, die man aus dem Chemieunterricht kennt, mit kovalenter statt ionischer Bindung – oder andersrum. Der Junge hatte seine leibliche Mutter bei der Geburt verloren, ein Thema, über das nie gesprochen wird. Mein Mann verkündete mir diese Tatsache gleich am Anfang unserer Beziehung in einem Satz, und ich begriff sofort, dass keine weiteren Fragen erwünscht waren. Und weil auch ich nicht gerne über den biologischen Vater des Mädchens spreche, haben wir beide uns immer an einen respektvollen Schweigepakt über diese Aspekte unserer Vergangenheit und der unserer Kinder gehalten.
Vielleicht wollten die Kinder deshalb immer Geschichten über sich und uns hören. Sie wollen alles darüber wissen, wann sie beide unsere Kinder und wir eine Familie wurden. Sie sind wie Anthropologen, die kosmogonische Narrative studieren, nur mit etwas mehr Narzissmus. Das Mädchen will ständig dieselben Geschichten hören. Der Junge fragt nach Momenten ihrer gemeinsamen Kindheit, als läge sie Jahrzehnte oder gar Jahrhunderte zurück. Also erzählen wir ihnen. Wir erzählen ihnen sämtliche Geschichten, an die wir uns erinnern können. Und sobald wir einen Teil auslassen, eine Kleinigkeit verwechseln oder nur geringfügig von der ihnen bekannten Version abweichen, unterbrechen und verbessern sie uns und verlangen, dass die Geschichte noch einmal erzählt wird, und diesmal richtig. Dann spulen wir das Band in unseren Köpfen zurück und spielen es von vorne ab.
GRÜNDUNGSMYTHEN
Unseren Anfang markieren eine fast leere Wohnung und eine Hitzewelle. In dieser Wohnung – derselben Wohnung, die wir gerade auflösten – saßen wir im Wohnzimmer auf dem Fußboden, alle vier in Unterwäsche, verschwitzt und müde, und aßen Pizza aus der Hand.
Wir hatten ein paar unserer Habseligkeiten und die Sachen, die wir an dem Tag gekauft hatten, ausgepackt: einen Korkenzieher, vier neue Kopfkissen, Fensterreiniger, Spülmittel, zwei kleine Bilderrahmen, Nägel, Hammer. Dann maßen wir die Größe unserer Kinder und malten die ersten Striche an die Flurwand: 84 und 107 Zentimeter. Dann hämmerten wir zwei Nägel in die Küchenwand und hängten zwei Postkarten aus unseren jeweiligen früheren Wohnungen auf: ein Porträt von Malcolm X, aufgenommen kurz vor seiner Ermordung, wo er den Kopf auf die rechte Hand stützt und jemanden oder etwas genau betrachtet; das zweite zeigt den aufrecht stehenden Emiliano Zapata, ein Gewehr in einer und einen Säbel in der anderen Hand, mit einer über die Schulter geschlungenen Schärpe und dem doppelten Patronengürtel über Kreuz auf der Brust. Das Glas vor der Postkarte von Zapata hatte noch den Schmutzfilm – oder war es Ruß? – aus meiner alten Küche. Wir hängten beide Bilder neben dem Kühlschrank auf. Aber selbst danach sah die neue Wohnung noch zu leer aus, die Wände zu weiß, fühlte sich fremd an.
Der Junge schaute sich Pizza kauend im Wohnzimmer um und fragte:
Und jetzt?
Das Mädchen, damals zwei Jahre alt, wiederholte seine Frage:
Ja, was jetzt?
Wir wussten beide keine Antwort, obwohl ich scharf nachdachte, denn vermutlich war es eine Frage, die uns insgeheim selbst die ganze Zeit beschäftigt hatte.
Und jetzt? bohrte der Junge nach.
Schließlich antwortete ich:
Jetzt geht ihr euch die Zähne putzen.
Aber unsere Zahnbürsten sind noch nicht ausgepackt, sagte der Junge.
Dann