Zum Buch
Eine Familie aus New York bricht zu einer Reise auf. Das Ziel ist Apacheria, das Land, in dem einst die Apachen zu Hause waren. Gleichzeitig sind Tausende von Kindern aus Südamerika auf dem Weg in den Norden. Meisterhaft verknüpft Archiv der verlorenen Kinder Reise und Flucht zu einem vielschichtigen Roman voller Echos und Reflektionen.
Eine Mutter, ein Vater, ein Junge und ein Mädchen packen in New York ihre Sachen ins Auto und machen sich auf in die Gegend, die einst die Heimat der Apachen war. Sie fahren durch Wüsten und Berge, machen Halt an einem Diner, wenn sie Hunger haben, und übernachten, wenn es dunkel wird, in einem Motel. Das kleine Mädchen erzählt Witze und bringt alle zum Lachen, der Junge korrigiert jeden, der etwas Falsches sagt. Vater und Mutter sprechen kaum miteinander.
Zur gleichen Zeit machen sich Tausende von Kindern aus Zentralamerika und Mexiko nach Norden auf, zu ihren Eltern, die schon in den USA leben. Jedes hat einen Rucksack dabei mit einem Spielzeug und sauberer Unterwäsche. Die Kinder reisen mit einem Coyote: einem Mann, der ihnen Angst macht. Sie haben einen langen Marsch vor sich, für den sie sich Essen und Trinken einteilen müssen. Sie klettern auf Züge und in offene Frachtcontainer. Nicht alle kommen bis zur Grenze.
Mit literarischer Virtuosität verknüpft Valeria Luiselli Reise und Flucht zu einem vielschichtigen Roman voller Echos und Reflektionen, zu einer bewegenden und brandaktuellen Geschichte darüber, was Flucht und was Menschlichkeit bedeuten in einer Welt, die aus den Fugen geraten ist.
»Fesselnd und immer überraschend – ein leidenschaftlich engagiertes Buch, eine wunderschöne, liebevolle Hommage an die Kinder, die wir behüten sollen.«
THE NEW YORKER
Über die Autorin
Valeria Luiselli, geb. 1983 in Mexiko City, schreibt für Magazine und Zeitungen wie Letras Libres und die New York Times. Sie hat bisher zwei Romane veröffentlicht, „Die Schwerelosen“ und „Die Geschichte meiner Zähne“, sowie die Essays „Falsche Papiere“. Ihre Bücher wurden in über 20 Sprachen übersetzt und mit Preisen ausgezeichnet. „Archiv der verlorenen Kinder“ ist der erste Roman, den sie in Englisch geschrieben hat. Sie lebt in New York.
VALERIA LUISELLI
Archiv der verlorenen Kinder
Roman
Aus dem amerikanischen Englisch von Brigitte Jakobeit
Verlag Antje Kunstmann
Für Maia und Dylan
INHALT
TEIL IV: ARCHIV DER VERLORENEN KINDER
UMZÜGE
Ein Archiv setzt einen Archivar voraus,
eine Hand, die sammelt und ordnet.
ARLETTE FARGE
Weggehen heißt ein wenig sterben.
Ankommen heißt nie ankommen.
MIGRANTENGEBET
ABFAHRT
Sie schlafen mit offenem Mund und dem Gesicht zur Sonne. Junge und Mädchen, mit Schweißperlen auf der Stirn und trockenem weißem Speichel auf den roten Wangen. Sie belagern den gesamten hinteren Raum des Wagens, alle viere von sich gestreckt, schwer und friedlich. Vom Beifahrersitz werfe ich hin und wieder einen Blick nach hinten, drehe mich dann wieder um und studiere die Karte. Im zähflüssigen Verkehr kriechen wir über die George Washington Bridge der Stadtgrenze entgegen und fädeln uns in die Interstate ein. Ein Flugzeug zieht über uns hinweg und hinterlässt eine gerade lange Narbe im Rachen des wolkenlosen Himmels. Mein Mann, der am Steuer sitzt, rückt seine Mütze zurecht und wischt sich mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn.
FAMILIENLEXIKON
Ich weiß nicht, was mein Mann und ich unseren Kindern später mal sagen werden. Ich bin mir nicht sicher, welche Teile unserer Geschichte wir für sie auswählen und bearbeiten, welche wir hin und her schieben und wieder einfügen, um eine endgültige Version zu erhalten – auch wenn das Auswählen, Umstellen und Bearbeiten von Tönen und Klängen vermutlich am besten zusammenfasst, womit mein Mann und ich unseren Lebensunterhalt verdienen. Aber die Kinder werden fragen, weil Kinder nun mal so sind. Und wir werden ihnen einen Anfang, eine Mitte und ein Ende erzählen müssen. Wir werden ihnen eine Antwort geben, eine richtige Geschichte erzählen müssen.
Der Junge wurde gestern zehn, einen Tag vor unserer Abreise aus New York. Wir kauften ihm schöne Geschenke. Er hatte ausdrücklich gesagt:
Kein Spielzeug.
Das Mädchen ist fünf und fragt seit Wochen unablässig:
Wann werde ich sechs?