Doch die Stadt verstanden sie immer noch nicht. Der höchst undurchsichtige Krieg, den die chicanos, die Amerikaner mexikanischer Abstammung, gegeneinander führten, war ein Mysterium, das die Mareros noch nicht durchschaut hatten. Bis zu einem gewissen Punkt konnten sie den Krieg der chicanos gegen die Banden der Schwarzen, die berüchtigten Gangs Bloods und Crips, verstehen. Sie waren anders, und das war ein ausreichender Grund für die Gewaltorgie. Sie verstanden auch, warum die chicanos sie, die Salvadorianer, die in ein bereits besetztes Gebiet gekommen waren, hassten. Was sie aber nicht verstanden, war, warum sich die chicanos gegenseitig abmurksten, um sich danach zu verbünden, wieder zu trennen und schließlich wieder zu verbünden. Eine scheinbar chaotische Abfolge von Konfrontationen und Bündnissen. Wie Baseball und das undurchschaubare Spiel four corners war auch dieses Spiel ein Mysterium, und die Stadt weigerte sich einstweilen noch, es ihnen zu erklären. Noch waren sie ein Zwischending zwischen einer Gruppe gewaltbereiter Freunde und einer kalifornischen Bande.
Der Anthropologe Abner Cohen zitiert in einem seiner Werke ein Sprichwort arabischer Bauern, um das System von Bündnissen und Aggressionen zu erklären. Es fasst alles in einem Satz zusammen, den man sehr gut auch auf das System der lateinamerikanischen Banden ein Jahrhundert später anwenden kann: »Ich gegen meine Brüder. Mein Bruder und ich gegen meine Cousins. Mein Cousin, mein Bruder und ich gegen den Fremden.«
So war es. So ist es. Die Banden der chicanos können sich noch so brutal untereinander bekämpfen, aber sobald sie in den Strafvollzug kommen, wo die mächtigen Banden der Schwarzen, Asiaten und Weißen auf sie warten, schließen sie sich zu einer gemeinsamen Front zusammen, die sie El Sur nennen. Dieses System bedarf eines Führers, und der heißt Mexican Mafia. Dabei handelt es sich um eine Art Zentralkomitee sämtlicher mexikanischer Banden im Süden Kaliforniens. Eine aus verschiedenen Banden zusammengesetzte übergeordnete Struktur, gebildet aus deren Anführern. Im System El Sur sind Hunderte von Banden zusammengeschlossen, aber nur einige wenige haben einen Vertreter in der Mexican Mafia oder der M, wie sie auf den Straßen von denen genannt wird, die sich trauen, ihren Namen auszusprechen.
Die M ist per definitionem eine Bande im Strafvollzug. Aus den Haftanstalten heraus legen sie die Rechte und Pflichten der mexikanischen Gangs fest. Sie bestimmen die Regeln, stellen einen Verhaltenskodex auf: Du sollst nicht aus einem Fahrzeug heraus töten. Du sollst kein Bandenmitglied angreifen, das mit seiner Familie unterwegs ist. Du sollst keinem Faustkampf ausweichen. Du sollst Blau tragen, nie Rot. Du sollst Abgaben an die M entrichten, in welcher Form auch immer die M sie von dir einfordert.
Wenn ein Mitglied die Regeln und Gesetze nicht befolgt, macht die M seine gesamte Gang dafür verantwortlich. Bei einem schwerwiegenden Vergehen kann sie sogar »grünes Licht« geben, das heißt, die Todesstrafe verhängen. Von dem Moment an sind alle Banden des Systems El Sur verpflichtet, diese eine Bande zu bekämpfen. Zahlreiche Gangs wurden durch die Zähne des Systems El Sur zerfleischt, weil sie schwere Verstöße gegen den von der M aufgestellten Verhaltenskodex begangen hatten.
Richard, ehemaliges Mitglied des Barrio 18 und fünfzig Jahre alt, erinnert sich, während er einen frisch gepressten Orangensaft im El Basurero (»Der Müllmann«) trinkt, einer Suppenküche in der Colonia Dina, einem der gefährlichsten Viertel von San Salvador:
»Als ich nach Los Angeles kam, traf ich als Erstes auf die MS in der Gegend um den Lafayette Park. Aber die Leute gefielen mir nicht, ich weiß nicht … Alle hatten lange Haare, waren schmutzig, besoffen. Alle hatten T-Shirts von Black Sabbath oder Metallica an, und das gefiel mir nicht. ›Los, komm zu uns, schließ dich an. Wir bieten dir Schutz‹, sagten sie zu mir, aber mir gefiel das nicht. Sie waren immer zugedröhnt, rauchten Crack.«
Richard kam Anfang der Achtziger nach Los Angeles. Er hatte den Comandos Urbanos der Guerilla angehört, doch der Mord an Romero, die Intensivierung des Krieges und die Bildung der fünf Eliteeinheiten durch die Reagan-Administration jagten ihm Angst ein. Er war damals gerade mal siebzehn Jahre alt und folgte seinen Onkeln und Cousins in den Norden. Nach seiner enttäuschenden Erfahrung mit den Mareros der Mara Salvatrucha Stoner suchte er einen anderen Baum, an den er sich anlehnen konnte. Er fand ihn schnell. In der Gegend um den Shatto Park stand jene kräftige Eiche, die seinem Leben mehr als zwanzig Jahre lang Schatten spenden sollte: die homeboys vom Barrio 18.
VIERTES KAPITEL
Willkommen im System El Sur
In den Achtzigerjahren war Los Angeles eine komplexe Stadt. Sie umfasste das wohlhabende angelsächsische Beverly Hills ebenso wie das gewalttätige Viertel der Schwarzen und Latinos. Hier die friedliche Ruhe eines Brunchs in der Sonne, dort das Blut und der Schmutz brutaler Kämpfe in allen Gassen.
Immer mehr Salvadorianer kamen in die Stadt. Tag für Tag strandeten hier Hunderte von ihnen, die schmutzigen Rücken mit dem Staub des sich ausweitenden Bürgerkriegs bedeckt. Sie waren immer mehr durch Gewalt geprägt. Viele von ihnen waren Deserteure, die es vorzogen, in den Norden zu flüchten, von dem sie wenig wussten, anstatt in den Bergen El Salvadors in bewaffneten Auseinandersetzungen, die sie mal mehr, mal weniger verstanden, zu sterben.
Mit dem Barrio 18 betrat Richard eine neue, alles verschlingende und gewalttätige, aber faszinierende Welt. Die Welt der Banden des Systems El Sur. Dort, wo er herkam, wusste man, was man zu tun hatte, wenn man einen Feind sah. Man legte sein Gewehr an, zielte und schoss. In der Welt des El Sur war das anders. Jeder Straßenzug, jedes Viertel der Latinos wurde von einer Gang kontrolliert, die im Allgemeinen den Namen des jeweiligen Viertels trug: Hawaian Gardens 13, White Fence 13, Florencia 13, La Puente 13, Varrio Nuevo Estrada, Artensia 13, Pacoimas 13 … Allesamt hispanische Viertel, allesamt im Krieg. Es gab auch Gangs mit anderen Namen wie die Crazy Riders 13, die Verrückten mit ihren Macheten und Äxten, oder die imposante, uralte Gang Playboy 13, elegante, aber grausame Männer, die schmalkrempige Hüte, Krawatten, zugeknöpfte Hemden und glänzende Schuhe trugen und mit Baseballschlägern die Normandie Avenue verteidigten. Mexikanische Auswanderer, pachucos, die sich untereinander erkannten, indem sie die Spitzen von Zeige- und Mittelfinger und Daumen aneinanderlegten und dabei Ringfinger und kleinen Finger wie Kaninchenohren abspreizten. Aber alle spielten dasselbe Spiel.
Das mit der 13 ist nichts anderes als eine Anspielung. Sie steht für die Mexican Mafia und ihr allmächtiges Komitee. Das M ist der dreizehnte Buchstabe des Alphabets. Um anzuzeigen, dass sie dem System El Sur angehören, verwenden die Mareros die 13 in ihrem Namen.
Wenn Richard von jenen Jahren spricht, rutscht er nervös auf seinem Stuhl hin und her und vermischt englische und spanische Wörter miteinander. All das faszinierte ihn. An einem Tag waren die Mitglieder einer bestimmten Bande seine Todfeinde, und am nächsten Tag, in einer kalifornischen Strafanstalt, waren sie seine Verbündeten im Kampf um den Gefängnishof gegen die Schwarzen. Wenn man jung ist, ist Geschwindigkeit verlockend. Aber immer auch gefährlich.
Die Salvadorianer eroberten mehrere der Stadtviertel, in denen niemand bruncht. Viele von denen, die in eine Bande des El Sur eintraten, schlossen sich dem Barrio 18 an, dessen Geschichte in die Fünfzigerjahre zurückgeht und dessen Arm bis ins mächtige Komitee der Mexican Mafia reicht, wo er mehr als ein Mitglied sitzen hat. Die Salvadorianer traten trotz des Widerstands der Mexikaner und chicanos in Hunderte hispanischer Gangs des Systems El Sur ein. Aber ihre eigentliche Heimat blieb die Mara Salvatrucha, die Organisation der Zentralamerikaner, gebildet von ihnen und für sie, um sich zu verteidigen.
Schnell begriffen sie die Grundzüge des Spiels, aber nicht seine Feinheiten. Sie kamen aus einem brutalen Land. Sie kannten kein Maß. Es war, als würde man einem Neandertaler das Boxen beibringen.
»Die Crazy Riders 13 zum Beispiel wurden richtig gefährlich, als die Salvadorianer hinzukamen. Bewaffnet mit langen Macheten und ausgestattet mit großen Kanthölzern zum Schärfen der Klingen, fuhren sie auf einem Pick-up durch die Gegend. Sie waren verrückt, in der Mehrzahl handelte es sich um Indios aus San Miguel [einem Department im Osten El Salvadors]«, erzählt Richard, der Ex-18er.
Das