Liccle Bit. Der Kleine aus Crongton. Alex Wheatle. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Alex Wheatle
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783956142451
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du gerade aus der Schule?«, fragte er.

      »Ja.« Es ist Viertel vor vier und ich hab meine Schuluniform an. Blöde Frage, dachte ich.

      »Zeitverschwendung, Bro«, meinte Manjaro. Er stieg vom Rad und kam auf mich zu. »Du machst, was die von dir wollen.«

      »Hä?«

      »Um in dieser Welt zu überleben«, erklärte Manjaro. »Die wollen, dass du in die Schule gehst, danach auf die Uni, und zum Schluss sollst du dir einen Job suchen, damit sie Steuern von dir kassieren können. Die interessieren sich einen Scheiß für dich, es sei denn, sie bekommen kein Geld von dir.«

      Ich sagte nichts.

      »Tu mir einen Gefallen, Kleiner«, bat Manjaro.

      »Was für einen?«, fragte ich.

      »Geh in den Laden und kauf mir drei Choc-Nut-Eis.«

      Ich war noch am Überlegen, als Manjaro schon eine dicke Brieftasche hinten aus der Jeans zog. Kam mir nicht real vor – der OG aus unserem Viertel wollte ein Eis am Stiel? Er zog einen Zwanziger raus und gab ihn mir. Der Schein war frisch und nagelneu. Ich konnte ihn fast riechen.

      »Drei Mal Choc-Nut«, wiederholte Manjaro. »Und wenn du willst, auch eins für dich.«

      Manjaros zwei Freunde sahen einander an und lachten. Ich ging in den Laden. McKay war immer noch drin, blätterte in einer Fußballzeitschrift. »Ich höre zu und behalte alles im Blick, Bro«, flüsterte er.

      »Danke für die Rückendeckung!«, sagte ich.

      »Kauf das Eis, und dann verziehst du dich.«

      »Das war mein Plan.«

      »Wenn du dir auch eins holst, gibst du mir die Hälfte ab?«

      »Nein! Lies lieber weiter den Scheiß über Cristiano Ronaldo!«

      Ich ging wieder raus und gab Manjaro seine Choc-Nuts. Seine beiden Brüder waren immer noch am Kichern. Durch sie kam ich mir noch kleiner vor, als ich sowieso schon war. Wenn ich größer und älter gewesen wäre, hätte ich ihnen eine reingehauen. Oder mir gewünscht, dass ich ihnen eine hätte reinhauen können. Ich ging rüber, wollte Manjaro den Zehnpfundschein und das Kleingeld zurückgeben.

      »Behalt’s«, sagte er.

      »Was?«

      »Kannst es behalten. Und du musst nicht mal Steuern dafür zahlen. Ich bin weg!«

      Manjaro und seine Brüder eierten einhändig die Straße runter, leckten ihr Eis am Stiel. Ich hoffte, sie würden das Gleichgewicht verlieren und die kalten Köstlichkeiten fallen lassen.

      Ich starrte den Zehnpfundschein an wie einen Gold-Nugget im Stummfilm. Davon könnte ich mir einen echt geilen Haarschnitt organisieren, dachte ich. Oder lieber eine neue Cap kaufen? Oder es beiseitelegen für ein paar neue Sneaker? Bevor mir noch mehr Verwendungsmöglichkeiten einfielen, spürte ich McKays große rechte Hand auf meiner Schulter. »Kaufst du mir ein Eis?« Er grinste. »Werd bloß nicht knausrig. Du weißt, dass ich dasselbe für dich tun würde.«

      »Würdest du nicht«, sagte ich.

      »Bruder!«, protestierte McKay. »Wie kannst du so schlecht über mich sprechen? Wenn meine Großmutter an einem heißen Sommertag in ihrer Wohnung im neunundneunzigsten Stock verdursten würde, ich würde dir trotzdem erst mal ein Eis kaufen, bevor ich nach ihr sehe. Das weißt du!«

      McKays Großmutter wohnte im dritten Stock in einem Block gegenüber. Ich kaufte McKay ein Eis, nur damit er die Klappe hielt, und steckte das Wechselgeld ein. Als ich mich auf den Weg zu meinem Block machte, erklärte mir McKay, ich sei sein bester Freund, aber ich hatte auch schon mal gehört, wie er es zu Jonah gesagt hatte, als der ihm was gekauft hatte.

      Ich ging die Stufen hoch und hörte plötzlich eine vertraute Stimme von oben. Mein Dad. Aber es war Mittwoch. Ich konnte mich nicht erinnern, wann ich Dad das letzte Mal an einem Mittwoch gesehen hatte, dem Tag, an dem Mum ihren freien Nachmittag hatte. Ich wartete auf dem Treppenabsatz unter meinen Eltern.

      »Also, was stehst du mit deinem nutzlosen Arsch vor meiner Tür?«, fuhr ihn Mum an.

      »Ich will meine Kinder besuchen«, erwiderte Dad. »Und meinen Enkel. Hab ihn eine ganze Weile nicht gesehen.«

      »Verzieh dich mit deiner traurigen Existenz, Mann!« Mum hob die Stimme. »Ich will nicht, dass du ihnen Flöhe in die Ohren setzt. Du versprichst, dass du kommst, und dann lässt du dich nicht blicken, und plötzlich stehst du mit deinen dreckigen Füßen hier auf der Matte. Du hast die beiden schon viel zu oft enttäuscht.«

      »Aber ich hab’s erklärt«, flehte Dad. »Stefanie war krank. Wir mussten sie ins Krankenhaus bringen …«

      »Bevor du mit dieser Frau gefickt hast, hattest du hier Kinder. Und die hast du immer noch, aber du enttäuschst sie andauernd, also schieb deinen nutzlosen Arsch aus der Bahn und geh zurück zu deiner dreckigen Schlampe …«

      »Sie hat einen Namen.«

      »Genau, den hat sie, und ich hab sie gerade bei ihrem Namen genannt! Hast du mir meine Alimente mitgebracht?«

      Langes Schweigen. »Nein. Nein, es war sehr schwierig, als Shirley nicht arbeiten konnte. Sie musste sich um Stefanie kümmern, weißt du …« Wieder Pause. »Ich will nur wissen, ob Elaine und Lemar zu Hause sind. Mich ein paar Minuten mit ihnen unterhalten, meinen Enkel sehen und ihnen erklären, was passiert ist …«

      »Elaine und Lemar sind nicht da!«

      »Ich bin hier, Mum«, sagte ich und kam die Treppe hoch. Ich wollte nicht, dass sie Dad verjagte, bevor ich mit ihm geredet hatte.

      Er sah mich erstaunt an und grinste irgendwie ein bisschen. Über seinem Paketauslieferer-Pulli trug er eine Jeansjacke. Ich sah Mum am Gesichtsausdruck an, dass ihr mein Timing nicht gefiel. Ganz und gar nicht. »Lemar, mach, dass du reinkommst. Du hast bestimmt Hausaufgaben, um die du dich kümmern musst.«

      Ich warf Dad einen Blick zu und grinste andeutungsweise im Vorbeigehen. »Hi, Dad«, grüßte ich. Eigentlich hätte ich ihn gerne gefragt, wie’s Stefanie ging, aber ich wollte Mum nicht ärgern. Nicht wenn sie ihr Ich-bin-im-Krieg-Gesicht machte.

      Dad wirkte ganz schön gestresst um die Augen. »Was geht, Lemar?«

      »Alles wie immer«, erwiderte ich. »Nur …«

      »Mach, dass du reinkommst verdammt!«, befahl Mum. Sie verschränkte die Arme und ich wusste, dass sie mir den Fernseher aus dem Zimmer holen würde, so ernst war’s ihr. Ich spürte den Luftzug, als sie hinter mir die Tür zuschlug. Wenig später hörte ich laute Stimmen.

      Der Geruch nach Makkaroni-Käse-Auflauf stieg mir in die Nase und ich fand Gran in der Küche, wie sie gerade in den Ofen schaute. »Sieht gut aus.« Sie lächelte mich an, richtete sich auf. »Kleiner, mach dir keine Sorgen, weil deine Mutter und dein Vater streiten. Das machen sie nur, weil sie dich lieb haben.«

      »Wo ist Elaine?«, fragte ich.

      »Oh, die ist mit Jerome los, eine Freundin besuchen.«

      Gran konnte nichts tun, damit es mir besser ging. Konnte sie nie, wenn Mum und Dad stritten. Sie fing an, ihren Lieblingssong von Bob Marley zu singen. »Don’t worry about a thing, cos every liccle thing, is gonna be all right!« Sie lächelte mich voller Hoffnung an und ich zwang mich, ihr Lächeln zu erwidern. Ich wünschte, ich hätte behaupten können, dass es mir durch Grans Song besser ging, aber ich hatte ihn viel zu oft gehört und inzwischen war ich auch schon zu alt dafür.

      Ich ging in mein Zimmer und warf meinen Rucksack aufs Bett. Dann betrachtete ich den Druck eines Gemäldes von L. S. Lowry, auf dem Männer und Frauen vor riesigen Fabriken und Schornsteinen zu sehen waren. Dad hatte ihn mir zu meinem letzten Geburtstag geschenkt, und jetzt hing er über meinem Bett. Stefanie war meine fünfjährige Halbschwester, und seit ihrer Geburt hatte sie immer wieder zum Arzt gemusst. Dad hatte nie richtig erklärt, was ihr fehlte, aber anscheinend