Kapitel 2
Ich fürchte den Schlaf, der mich eintreten lässt in jenes Reich der Geister, der Feinde der Erdmutter – und damit meiner Feinde.
– 32. Akh’Eldash, 25. Eintrag, Vers 15
Kira saß allein in einem Boot. Über ihr wölbte sich ein schwarzer Himmel ohne Sterne. Dennoch erkannte sie alles um sich her: Bürgerhäuser glitten vorbei, Geschäftskontore, Werkstätten. Sie trieb einen Kanal entlang. Vor ihr zogen ähnliche Boote dahin, bewegten sich ohne Ruderer oder Passagiere zielstrebig, wie von einer unsichtbaren Hand geführt. Eine ebenfalls lautlose Prozession von Booten schwebte quer zum Kanal über ihr. Unter den algenbewachsenen Kielen glitt Kira hindurch wie unter einer Brücke.
Sie trieb auf einen Steg zu. Darauf stand ein hochgewachsener Mann in Uniform, der ihr den Rücken zukehrte. Prinz Siluren! Fiebrige Vorfreude erfasste sie. Kaum hatte das Boot angelegt, sprang sie auf den Steg. »Hoheit!«
Er wandte sich um. Nicht Siluren. Ein weißes Gesicht und wasserfarbene Augen: Krolan der Fahle, König von Oneräa. Sie blieb abrupt stehen.
»Welche Stadt ist das?«, fragte er. »Bethelgard?«
Sie wollte nicht mit ihm reden, wandte sich ab. Der Steg führte auf eine Tür zu, die sich öffnete. Dahinter lag ein erstaunlich hoher Giebelsaal.
Zögernd trat sie ein. Der Raum kam ihr bekannt vor, aber sie wusste nicht, woher. Käfige hingen von der Decke, leer bis auf einen. In diesem saß ein Mensch, das Gesicht von lang herabhängenden Haaren verborgen. Bei der mageren Gestalt war unmöglich zu sagen, ob es ein Mann oder eine Frau war.
Krolan trat ebenfalls ein. »Es war schwierig, dich zu finden«, sagte er mit seiner sanften Stimme. »Du hast dich von mir entfernt.«
Schmerzerfülltes Stöhnen erfüllte den Raum, vibrierte in den Wänden, schien selbst Kiras Leib zu durchdringen. Sie blickte sich nach der Quelle des Lautes um, doch rundherum waren bloß gemauerte Wände aus roten Ziegeln, weit oben ein paar Fenster. Nicht einmal eine Tür gab es.
Aber war sie nicht eben durch eine solche hereingekommen? In einem Traum verschwinden Dinge und tauchen auf, verändern sich von einem Blick auf den anderen. Sie erinnerte sich an diese Worte, aber wer hatte sie gesprochen? Richtig, das war Magus Inselm gewesen, den sie aufgesucht hatte, um sich zu wappnen, falls Kughan ihre Träume erneut heimsuchen sollte. War dies etwa ein Traum?
Sie versuchte, sich an das Gespräch mit dem Magus zu erinnern. Es gibt Möglichkeiten zu prüfen, ob man träumt. Sich selbst zu kneifen gehört allerdings nicht dazu.
Kira schloss die Augen. Trotzdem sah sie Krolan, als könne ihr Blick ihre Lider durchdringen. Das war ein Beweis. Sie befand sich in der Welt der Geister, in der Welt, in die alle Träumenden Nacht um Nacht eintraten.
Dummerweise war sie nicht alleine hier, sondern mit König Krolan, einem Magus, der Träume lenken und formen konnte, der darin sogar töten konnte, wenn er Blut seines Opfers besaß.
Krolan besaß ihr Blut. Viel davon. Sie musste fliehen! Sich rückwärtsfallen lassen, damit der Schreck sie aus dem Schlaf riss, wie Inselm es ihr erklärt hatte.
Doch sie zögerte. Dies war eine Gelegenheit, die sie nicht verstreichen lassen durfte. Krolan vertraute ihr. Er glaubte sie noch immer treu in seinen Diensten. Sie konnte das nutzen, um mehr von ihm zu erfahren. Selbst wenn es Euch nicht gelingt, Euer Wissen über den Moment des Erwachens hinaus mitzunehmen, so kann es doch in einem verborgenen Teil Eures Geistes verbleiben und Eure Handlungen im rechten Moment lenken.
Wieder erklang ein alles durchdringendes Stöhnen. Aus den Fugen zwischen den Ziegelsteinen quoll Blut hervor, lief dickflüssig die Wände hinab.
Der Raum kam Kira zwar bekannt vor, aber er gehörte ganz sicher nicht zu ihrem Leben. Er musste aus Krolans Geist gebildet sein, aus seinen Erinnerungen. Der Wechsel von Eurem Traum in den eines anderen ist immer gekennzeichnet. Es ist eine Tür, ein Tor, eine Schwelle, die Ihr überschreitet. Also befand sie sich inzwischen in Krolans Traum.
Sie wandte sich ihm zu. »Was ist das für ein seltsamer Ort?«
»Der, an dem sich alles verändert hat.« Für einen Moment erklang ein rhythmisches Knarren. Krolan hob unwillig die Hand, und es verstummte. »Viel wichtiger: wo bist du gerade? Wo ist der Zauderer? Seid ihr noch auf Krailenhorst? Oder konntest du ihn, wie ich es dir befohlen habe, davon abhalten, in die Burg zu flüchten?«
Sie wollte ihm nichts preisgeben, sondern im Gegenteil mehr von ihm erfahren. Dies war seine Welt. Sie musste mit ihren Fragen die Gefühle weckten, die darin schlummerten. Auch wenn er stark ist, das eine oder andere wird ihm entschlüpfen, wird sich manifestieren, sodass Ihr es sehen könnt.
Sie lächelte spöttisch. »Das Geräusch eben – habt Ihr in diesem Raum etwa Eure Unschuld verloren?«
Da lag ein Sack mitten im Raum, weißes Mehl um ihn her verstäubt. Krolan ließ auch ihn mit einer Handbewegung verschwinden. »Ich erwarte Antworten von dir, keine Fragen. Der Zauderer?«
Sie zuckte die Achseln. »Wir sind nie auf Krailenhorst angekommen. Prinz Siluren schätzt weder die Burg noch deren Einsamkeit. Er ist in der Ortschaft am Talausgang geblieben.«
»Das ist günstig. Kannst du an sein Blut gelangen?«
»Den Prinzen verletzen?«
Er lächelte. »Ein zerbrochenes Glas, ein liegengelassener Dolch«, das Lächeln wurde niederträchtig, »eine Schramme der Leidenschaft. Lass dir etwas einfallen. Ein paar Tropfen auf einem Tuch würden mir vorerst genügen. Lass es mir durch Geran zukommen.«
Geran. Ob der überhaupt noch am Leben war? Oder hatte Trenkar ihn hängen lassen, nachdem er sich als unzuverlässige Quelle erwiesen hatte?
»Was ist?« Ein misstrauischer Blick Krolans. »Traust du dir das nicht zu?«
»Nein, es … geht um Geran. Ich weiß nicht, ob wir ihm noch trauen können.« Sie musste auf der Hut sein, durfte sich nicht zu sehr in Lügen verstricken. Sie war eine Kämpferin, verdammt, keine Ränkeschmiedin. Sie durfte sich nicht aushorchen lassen, musste zurück zu Krolan, zu seinen Erinnerungen. Was hatte er eben noch verschwinden lassen? »Dieser Mehlsack«, sagte sie. »Was hat es damit auf sich?«
Wieder lag der Sack auf dem Boden, und Kira setzte sich kurzerhand darauf. Berührung hält die Dinge im Sein.
»Was soll das?« Plötzlich verlor Krolans Stimme ihren weichen Klang.
Über ihr bewegte sich der Käfig, den Kira bisher zu übersehen versucht hatte. Sie hatte die verhungerte Gestalt darin für Inventar gehalten, eine weitere Erinnerung oder Vorstellung Krolans, die zu diesem Raum gehörte. Doch nun wandte die Gestalt den Kopf und fragte mit brüchiger Stimme: »Warum zeigst du es ihr nicht?« Das Gesicht hinter den strähnigen Haaren war nicht zu erkennen. Dennoch meinte Kira nun, es müsse eine Frau sein, die dort in dem Käfig dahinvegetierte.
Krolan antwortete mit beißender Liebenswürdigkeit: »Du solltest deine Zunge hüten, alte Krähe. Sonst vergesse ich am Ende noch, dich herauszulassen, ehe es zu spät ist.«
Ein heiseres Lachen antwortete, das tatsächlich an das Krächzen einer Krähe erinnerte. »Womit kannst du mich noch schrecken? Zeig es ihr. Zeig ihr die kleinliche Wut, derentwegen du mir meinen Sohn genommen hast.«
Kira saß noch immer auf dem Mehlsack, aber jetzt trug sie das Kleid einer Dienstmagd, die Beine gespreizt, den Rock gehoben. Vor ihr stand Krolan. Ein anderer Krolan. Ein blasser, magerer Jüngling mit schwarzem Haar, die Hand in der Hose.
»Wo bleibt Ihr denn?«, kam es von Kiras Lippen. Nicht ihre Worte, und doch seltsam zwingend. »Soll ich noch mal zurück in die Küche gehen und wiederkommen, wenn Ihr soweit seid?«
Der Junge warf ihr einen hasserfüllten Blick zu. Eine Tür krachte auf, und da stand ein junger Mann in Brokat