Diese Übersicht umfasst stichwortartig alle Prinzipien und Faktoren der Kreativ-rituellen Prozessgestaltung (Krpg). Daher dient sie im Folgenden immer wieder als inhaltlicher Bezugspunkt (vgl. auch Text Seite 8).
1. Weiche Wirklichkeiten
Einführung
Vor zehn Jahren entwickelten Astrid Habiba Kreszmeier und Hanspeter Hufenus die Kreativ-rituelle Prozessgestaltung (Krpg), ein Konzept zur Begleitung von Personen und Gruppen, welches auf der Verbindung erlebnispädagogischer Methoden mit einer systemischen Haltung beruht. In der Verknüpfung von Naturerfahrung, Kreativtechniken, Szenischer Arbeit und ritueller Gestaltung wird ein Lernprozess gestaltet, der den Einzelnen darin unterstützt, sich wahrzunehmen, Verhaltensweisen und gegebenenfalls Muster zu erkennen sowie Lösungen zu entwickeln, um mit einem Bewusstsein der individuellen Ressourcen und im lebendigen Austausch mit der Umwelt den guten Platz in der Gruppe, im Team oder in der Familie einnehmen zu können.
Seit 1997 haben viele Personen am Lehrgang für systemische Erlebnispädagogik teilgenommen, die mit Menschen in unterschiedlichen beruflichen Kontexten arbeiten: Sozialpädagogen, Berater, Geschäftsführer, Personalleiter, Händler, Physiotherapeuten, Lehrer, Arbeitsagogen, Bergführer, Künstler, um nur einige zu nennen. Sie nahmen die Kreativ-rituelle Prozessgestaltung in ihre professionellen Welten mit, verknüpften sie mit anderen Methoden oder passten sie den Anforderungen ihrer Zielgruppen an, und trugen so zur Vertiefung und Weiterentwicklung bei. Von ihren Erfahrungen, Wagnissen und Schritten berichten die Artikel dieses Herausgeberbandes.
In den Jahren der Lehrgangspraxis hat sich als theoretische und praktische Grundlage der Kreativ-rituellen Prozessgestaltung eine Übersicht herauskristallisiert, der „Krpg-Globo“, der als Abbildung auf Seite 7 zu sehen ist. Im Zentrum steht der pädagogische Prozess, welcher von unterschiedlichen Faktoren bestimmt, getragen und geführt wird, die wir in der Fachsprache weiche und harte Wirklichkeiten nennen. Der Weg dieses Bandes führt uns Schritt für Schritt durch diesen Krpg-Globo, Ausgangspunkt sind die weichen Wirklichkeiten. Diese beinhalten all jene Prinzipien des pädagogischen Handelns, die sich aus unserem Selbstverständnis ergeben. Es sind Bedeutungen, die wir geben, Haltungen, die wir einnehmen, gedankliche Verbindungen, die wir herstellen, Ideen, denen wir vertrauen; kurz, es ist die pädagogische Brille, mit der wir schauen.
Astrid Habiba Kreszmeier
Menschen stärken – Sachen klären
Edmond Tondeur
Von der Offenheit für das Geheimnis
Robert Hepp, Susanne Doebel
Stephan Schmid
Posteingang (1): Stuttgarter Betrachtungen
Andreas Bühler, Peter Thomas, Karin Wabersich
Andrea Zuffellato
Im Spiel der Phänomene
Astrid Habiba Kreszmeier
Eine phänomenologisch orientierte Pädagogik (wofür sich die Kreativ-rituelle Prozessgestaltung hält) baut ihren Rahmen, ihre Rhythmik und ihre methodisch-didaktische Interventionsführung auf der Annahme auf, dass der pädagogische Prozess von Phänomenen unterstützt oder gar geleitet werden kann. Wenn ich hier einige Sichtweisen zu diesem „Spiel der Phänomene“ im pädagogischen Kontext darstelle, dann im Bewusstsein, dass ich mich auf ein weites Feld begebe, dem ich nicht umfassend gerecht werden kann. Das hat einerseits mit unserer eigenen Begrenztheit, aber ebenso mit dem Gegenstand der Betrachtung zu tun, an den sich die Menschheit schon seit langer Zeit und aus vielen verschiedenen Forschungsrichtungen letztlich immer nur herantastet. So werde auch ich mich einer solchen Pädagogik hier nur fragmentarisch und assoziativ annähern, hoffe aber dennoch, einige hilfreiche Bilder und Gedanken mitteilen zu können.
Was ist (hier) ein Phänomen?
Ein Phänomen ist einfach gesagt „etwas, das sich zeigt“, „etwas, das sichtbar wird“, „etwas, das unter vielen anderen sichtbaren Ereignissen oder Dingen besonders hervorsticht“.
Wenn durch einen Seminarraum ein Tiger laufen würde, aber niemand sieht ihn, dann wäre er nicht nur kein Phänomen, sondern nicht einmal existent. Wenn sich in diesem Raum ein Schmetterling auf meinen Handrücken setzen würde, angenommen genau in dem Moment, in dem ich das berühmte Beispiel vom Flügelschlag eines Schmetterlings in China, der dann in Südamerika ein Erdbeben mitbewegt, erzähle, dann wird dieser Schmetterling erst dann wirklich, wenn ich oder irgendjemand ihn wahrnimmt. Aber selbst dann muss er noch kein Phänomen sein. Zum Phänomen wird er erst, wenn etwas zwischen mir und dem Schmetterling oder zwischen anderen und dem Schmetterling geschieht, das dieser Begegnung Bedeutung schenkt und die Beteiligten „berührt“.
Ein Phänomen ist also nicht per se ein Phänomen, sondern wird erst durch den Akt der Wahrnehmung und Beziehung zu einem solchen. Eine phänomenologisch orientierte Pädagogik ist also kurz gesagt eine Pädagogik der beziehungsstiftenden Wahrnehmung. Was die Sache nicht zwingend einfacher macht, weil die Wahrnehmung wohl einer der komplexesten Seinsvorgänge ist, mit denen wir uns befassen können.
Ein paar Gedanken zur Wahrnehmung
In uns allen fließt – weil über viele Jahrhunderte so gesehen und gelehrt – die Vorstellung, dass unsere Wahrnehmung ein Vorgang ist, durch den eine äußere Wirklichkeit objektiv und objektgetreu abgebildet wird. Das führt dazu, dass wir konsequent davon ausgehen, dass das, was wir wahrnehmen, genauso wirklich ist, dass es dort draußen, getrennt und unabhängig von uns, existiert.
Daran haben auch die Erkenntnisse der Physik, der Biologie, der Wahrnehmungspsychologie etc. der vergangenen 90 Jahre noch kaum etwas verändert, umso wichtiger, uns daran immer und immer wieder zu erinnern:
Das, was wir wahrnehmen, ist nichts Objektives, sondern das, was wir durch den Wahrnehmungsprozess, der von vielen vorbewussten Mustern und Selektionsverfahren geprägt ist, als Wirklichkeit herausfiltern.
Die Lebensfadenspinnmaschine
Demnach ist Wahrnehmung weit mehr als die Abbildung einer Wirklichkeit, sie ist ein Prozess, der aktiv an der Erschaffung dieser Wirklichkeit beteiligt ist. Meine Wahrnehmungsart beeinflusst nicht nur meine Wirklichkeit, sondern darüber hinaus auch die Wirklichkeit des Wahrgenommenen. Damit wird auch deutlich, dass Wahrnehmen kein einseitiger, sondern ein interaktiver Vorgang ist, bei dem die vorher so klaren Grenzen des Innen und Außen ziemlich rasch verschwimmen.
Für gewöhnlich geht der Wahrnehmungsprozess, das heißt auch der „Bedeutungsgebungsvernetzungsakt“ so schnell vor sich, dass er sich unserem Bewusstsein entzieht, wie die vielen Bilder im Film, die wir nie einzeln sehen, ohne die es beim schnellen Abspielen aber keine Bewegung gäbe. Und das macht auch Sinn, denn durch diesen Akt der Auswahl, Betonung, Ausblendung und Verknüpfung erzeugen wir eine kontinuierliche Ich-Identität und unser Leben erhält einen roten Faden.
Hinderlich