1. Forderung nach Selbständigkeit der Person (Autonomie-Prinzip), ein Postulat, demzufolge niemand dazu befugt ist, einem Rechtssubjekt zu verbieten, dessen eigene Lebenspläne zu schmieden und in dem Maße zu verwirklichen, als es dadurch andere Rechtssubjekte nicht daran hindert, ihre eigenen Lebenspläne unter Wahrung äquivalenter Kriterien zu entwerfen und auszuführen.
2. Forderung nach Wahrung der Würde (Dignitäts-Prinzip), ein Postulat, gemäß welchem es niemandem gestattet sei, ein Rechtssubjekt seiner Subjektität und prinzipiellen Rechtsfähigkeit zu entheben – dies auch dann nicht, wenn der betreffende Mensch sich in Bezug auf andere Individuen in Rechtsverhältnisse begeben hat, die ihm nur Bürden auferlegten und keine Rechtsgunst einbrachten. –
Während das 1. Postulat das im Ich-Kern selbst gründende Wesensmerkmal, eigene Lebensziele zu setzen, anspricht und das 2. Postulat die grundsätzliche Rechtsfähigkeit schützt, geht es in den zwei weiteren Forderungen um die Integrität der seelischen und körperlich-leiblichen Wesensteile des Individuums und um die durch sie vermittelten Erlebniskomponenten:
3. Forderung nach Unantastbarkeit (Unverletzlichkeit) der Person (Inviolabilitäts-Prinzip), ein Postulat, dank dem wir sicherstellen wollen, dass grundsätzlich niemand dazu berechtigt sei, ein Individuum körperlich-leiblich zu versehren (zu foltern) oder psychisch zu quälen – und dies insbesondere auch nicht im Gefolge von Rechtsstreitigkeiten.
4. Anspruch auf sinnenvermittelte Freude und Lust (Hedonismus-Prinzip). Damit halten wir fest, dass jedem Individuum ein Recht auf sinnenvermittelte Lusterlebnisse zusteht (sowohl organgebundene Empfindungen als auch die durch Sinneseindrücke ausgelösten Gefühle sensu stricto), welche für die Entfaltung menschengerechten Daseins unentbehrlich sind. –
Diese vier von C. S. Nino umfassend begründeten Forderungen gehören zur Kategorie der Rechtsansprüche, der claims bzw. der von den Mitmenschen gewährten und vom Einzelnen ergriffenen lieberties (Freiheitsrechten zu etwas). In meinen Augen bilden sie den Fundus rechtsrelevanter Forderungen, die in der Subjektität des menschlichen Individuums begründet sind und sie kennzeichnen. Keinem Wesen, dem das von H. Arendt hervorgehobene Merkmal zukommt, Rechtssubjekt zu sein und mithin am Rechtsdiskurs teilnehmen zu können, dürfen wir die Fähigkeit absprechen, jene Postulate zu erheben und geltend zu machen. Indem er sie äußert und vertritt, negiert der Einzelne, identisch mit den Anderen zu sein. Er erklärt sich grundsätzlich als ihnen ebenbürtig und fordert für sich und für Andere die betreffenden privileges, liberties, das heißt: die dem Einzelnen wesentlichen Freiheitsrechte, etwas zu tun bzw. zu unterlassen. Das bedeutet jedoch: Jeder Einzelne fordert von den Anderen – in einem Staatswesen mithin von den staatlichen Organen –, dass sie ihm grundsätzlich die Autonomie, die Dignität, die Unverletzbarkeit der Person und das Aufsuchen und Erfahren von Freude und Lust zugestehen. So handelt es sich bei den zum Wesenskern der sich entwickelnden Persönlichkeit gehörenden Forderungen rechtlich gesehen um Forderungen nach liberties, nach verbrieften, gewährten Freiheitsrechten, etwas zu tun bzw. zu unterlassen. Diese, das menschliche Wesen auszeichnenden Grundforderungen, deren Erwahrung dem Einzelnen ein menschenwürdiges Dasein ermöglicht, müssen die Individuen eines Gemeinwesens von den jeweils Anderen, insbesondere von den Vertretern eines Staatswesens immer wieder neu erkämpfen, erstreiten, abtrotzen und unermüdlich verteidigen. Denn die zu den integrierenden Merkmalen der sich entwickelnden Persönlichkeit zählenden Prinzipien – insbesondere jene der Autonomie und der Dignität – schränken die Macht der Regierenden jeder Couleur ein. Daher gehört, als Ergänzung zu den genannten ideellen Grundforderungen des Einzelnen, die moralische Pflicht des Individuums, dafür zu kämpfen, dass im positiven Recht die Gewährung und der Schutz der vier Grundforderungen verankert seien. Ferner gehört es zu seiner moralischen Pflicht, sich gegen deren Aufhebung zu widersetzen – und sei letztere auch nur als zeitlich begrenzte Maßnahme vorgesehen.
Die vier Postulate umschreiben also die fundamentalen Kennzeichen eines Menschen, der als werdende Persönlichkeit die sich entfaltende und wandelnde Rechtssphäre mitzugestalten berufen ist. Die Forderungen erweisen sich als unabhängig von jeder Gruppenkategorie und zeichnen sich so als übergeordnete Rechtsprinzipien freier Individuen aus. Sie ersetzen die positive Gesetzgebung nicht, stellen aber Leitgedanken dar, die nur dann Bedeutung erlangen, wenn jeder Einzelne, der sie anzuerkennen vermag, sie im Diskurs vertritt, sie verteidigt, seine eigene Handlungsweise nach ihnen ausrichtet. –
Anmerkungen
1 Vgl. Urphänomene der Rechtssphäre I, S. 11-35.
2 Vgl. Urphänomene der Rechtssphäre I, S. 17.
3 Reinach, A., Sämtliche Werke. Textkritische Ausgabe in 2 Bänden, herausgegeben von K. Schuhmann und B. Smith. – München (u.a.): Philosophia, 1989.
4 Vgl. Corbin, «Foreword», S. VIII, in Hohfeld, Wesley Newcomb: Fundamental Legal Conceptions. Arthur Corbin (ed.). – Westport, Conn.: Greenwood Press, 1978.
5 Hohfeld, Wesley Newcomb: Fundamental Legal Conceptions as Applied in Judicial Reasoning. And Other Legal Essays. Ed. by Walter Wheeler Cook. – New Haven: Yale University Press, 1923. S. 35 ff.
6 Vgl. Nino, Carlos Santiago: Introducción al análisis del derecho. – Buenos Aires: Astrea, 1993, 6. Aufl. S. 208. – Siehe auch: Arthur L. Corbin, «Legal Analysis and Terminology», in The Yale Law Journal, Vol. 29, No. 2, 1919, 163–173. (1919), der die strenge terminologische Klärung ausarbeitet und an einfachen Beispielen veranschaulicht; ferner Nyquist, C., «Teaching Wesley Hohfeld’s Theory of Legal Relations», in Journal of Legal Education, Volume 52, Numbers 1 and 2 (March / June 2002), p. 238–257. Nyquist legt ebenfalls an mehreren Beispielen dar, wie mit Hohfelds Ansatz die logischen Zusammenhänge klar hervortreten. Corbin und Nyquist zeigen, wie bedeutsam diese begriffliche Klärung für die Ausbildung der Juristen ist.
7 Berman, Harold J., Law and Revolution. The Formation of the Western Legal Tradition. – Cambridge, Mass.: Harvard U.P., 1983. S. 80.
8 Berman, S. 80.
9 Heraklit, Fragmente. Griechisch und Deutsch. Hrsg. von Bruno Snell. – Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1976, 6. Aufl. S. 18. – Ferner: Mansfeld, Jaap und Oliver Primavesi (Hrsg.): Die Vorsokratiker. Griechisch / Deutsch. – Stuttgart: Philipp Reclam jun., 2011. S. 265.
10 Arendt, Hannah: «Es gibt nur ein einziges Menschenrecht», in Die Wandlung, 1949, 4. Jg., 8. Heft, S. 754–770. S. 760.
11 Anregungen für das Folgende verdanke ich folgenden Schriften: Bollnow, Otto Friedrich: Das Wesen der Stimmungen. – Frankfurt am Main: Klostermann, 1988, 7. Aufl.; Brentano, Franz: Psychologie vom empirischen Standpunkt. Bd. I–III. – Hamburg: Meiner, 1973 (Bd. I, 3. Aufl.), 1971 (Bd. II, 2. Aufl.), 1974 (Bd. III, 2. Aufl.); Steiner, Rudolf: Von Seelenrätseln. – Dornach: R. Steiner Verlag, 1983, 5. Aufl.- Bezüglich der begrifflichen Differenzierungen, vgl. Gut, B., Die Verbindlichkeit frei gesetzter Intentionen. – Stuttgart: Freies Geistesleben, 1990. S. 129 ff.
12 Nino, Carlos Santiago: The Ethics of Human Rights. – Oxford: Clarendon, 1991. S. 3 f.
13 Nino, 1991, S. 129 ff.
URPHÄNOMENE DER RECHTSSPHÄRE III
Die Idee einer Gesamtheit1 freier, selbständiger Einzelner
El sueño de la razón produce monstruos.