Unter ihren Verehrern Noufflard, Beaugnies und Beaunier wählte Isadora den unansehnlichsten, den klein gewachsenen, rundlichen, bebrillten André als ihren Favoriten aus, denn er war von allen dreien am meisten cérébrale. Lange Stunden las er ihr vor – Flaubert, Gautier und Maeterlinck und auch aus eigenen Werken. Streng als Sprachlehrer, hochkonzentriert als Zuhörer war er unermüdlich als Diskussionspartner, und Isadora freute sich über diese neue erfüllende Gesprächsbeziehung, die sie zunehmend korrekt auf Französisch führen konnte. Aber sie wunderte sich auch, dass der Freund auf ihre tastenden Versuche, ihn zu einer anderen Art von Beziehung aufzufordern, niemals einging. Sie nahm beim Spaziergang seine Hand, er zog sie bald zurück. Sie setzte sich nach der Vorführung einer neuen Tanzfigur neben ihn auf die Matratze – er erhob sich. Sie erlaubte sich zum Abschied einen Kuss auf seine Wange, er zuckte zurück. Was war da los? Gefiel sie ihm denn gar nicht? Er kam doch immer wieder. Eines Abends besorgte Isadora für Raymond und die Mutter Opernkarten, und als die beiden außer Haus waren, zog sie eine seidene Tunika an und arrangierte eine Kiste mit weißem Tischtuch, Blumenschmuck und allerlei Leckereien, dazu eine Flasche Veuve Clicquot. Wie abgemacht traf André ein, aber statt sich mit ihr zu Tisch zu begeben, trat er ans Fenster, holte ein Taschentuch hervor und begann zu schluchzen.
»Was in aller Welt ist geschehen?«, fragte Isadora.
André brauchte eine Weile, bis er sprechen konnte. »Oscar Wilde ist gestorben.«
»Oh. – Ich weiß, er ist ein herausragender Dichter. Das Bildnis des Dorian Gray. Aber ich wusste nicht, dass Sie ihn kannten –?«
André wandte sich um, erblickte die Kiste mit dem weißen Tuch, die Champagnerflasche und die Blumen im Haar seiner Freundin. »Adieu«, sagte er mit tränenerstickter Stimme und ging rasch hinaus.
Erst im Rückblick begriff Isadora. André kannte Oscar Wilde nicht persönlich, natürlich nicht, trauerte aber um ihn, weil er sich ihm nahe fühlte, denn er liebte wie der irische Dichter die Angehörigen seines eigenen Geschlechts. Er war ein »Uranier«, wie man damals sagte. Was ihn nicht daran hinderte, Freundschaften mit kultivierten Frauen zu pflegen, doch körperliche Nähe suchte er zu ihnen nicht. Isadora, die das nicht wusste, fühlte sich verschmäht und grollte. Die nächsten Abende ließ sie André links liegen und widmete sich dem gut aussehenden, liebenswürdigen Charles Noufflard. Diese Geschichte ging genauso enttäuschend aus wie die mit André, nur dass die Umstände sozusagen spiegelverkehrt gelagert waren. Charles, der sich zunehmend dazu ermuntert fühlte, führte Isadora in ein Etablissement mit Champagner-Souper und chambre séparée, und als er sie umarmte und küsste und den Gürtel ihres griechischen Gewandes löste, machte sie den Fehler, ihm zu gestehen, wie lange sie schon auf diesen Augenblick, auf die Liebe überhaupt, gewartet habe. Der Erste – nein, der wollte Charles nicht sein. Bestürzt hielt er inne und bat sie, sich wieder anzuziehen. Vielleicht dachte er auch an seinen Onkel, der bei seinem Ersuchen an ihn, sich Isadoras anzunehmen, sicher kein Séparée im Sinn gehabt hatte. »Du musst rein bleiben«, flüsterte er und half ihr mit den Schuhen. Isadora war den Tränen nahe. Sie zitterte am ganzen Leibe und verstand die Welt nicht mehr. Später, allein in der Nacht, dachte sie: ›Was die Männer mir verweigern, muss meine Kunst mir geben. Es soll wohl so sein, dass nur sie meine Liebe erwidert.‹ Tags darauf besuchte sie Loïe Fuller.
La Duncan wurde im Laufe des Jahres 1901 zu einem Geheimtipp unter den Pariser Freunden einer neuen Tanzkunst, Fuller hatte ihren Namen schon öfter gehört und war erfreut, sie zu treffen. Isadora tanzte für sie und überraschte sie. »Ich wusste nicht, dass so ein Tanz möglich ist«, sagte Loïe, »Sie sind formidable. Möchten Sie mich nicht auf meiner Tournee im nächsten Jahr begleiten? Wir könnten gemeinsam auftreten.« Und in der Tat, obschon ihre Darbietungen ganz unterschiedlich waren, gab es manches, was die beiden verband. Fuller gab Unterricht, und sie folgte dabei denselben Prinzipien wie Duncan. Beiden kam es auf die Eigenart, die Individualität des tanzenden Menschen an, und das war etwas völlig Neues im Vergleich zur traditionellen Tanzerziehung. Die gab einen festgelegten Kanon von Techniken weiter, in dem, schlicht gesagt, alle dasselbe machten. Aber die Zeit hatte sich gegen die Tradition gekehrt. Der neue Tanz hatte mit dem Ballett nichts mehr zu tun. Er suchte die Freiheit. Er suchte, so wie Duncan ihn vormachte, das bewegte Bild, das entsteht, wenn der Körper seinem persönlichen Ausdrucksverlangen folgt. Er suchte nach Fullers Beispiel den Wirbel, die Welle, den Feuerstoß, die entstehen, wenn Bewegung sich in beleuchteter Materie fortsetzt und zur phantastischen Erscheinung wird. Das war ein kühnes Programm, es war die Ouvertüre zum Ausdruckstanz und zum modern dance, und seine Vorankünderinnen kamen beide nicht zufällig aus Amerika, einem Land, in dem das klassische Ballett nie wirklich heimisch geworden war. Es fehlte ihm dort die kulturelle Wiege: der Königshof und seine Neigung zur subtilen Künstlichkeit in der Prachtentfaltung. Dafür hatte dieses Land immer etwas übrig für Wagemut und Experimentierfreude. Unterm Zeichen solcher hervorstechenden Charakterstärken hatte Amerika die beiden Pionierinnen einer neuen Tanzkunst nach Europa gesandt. Im Jahre 1900 kam aus den Staaten noch eine dritte Neuerin hinzu, die der Vollständigkeit halber erwähnt sein soll: die nach François Delsartes Lehre erzogene Tänzerin Ruth St. Denis.
Loïe Fuller versprach der Kollegin, sich bei ihrem Agenten für sie einzusetzen. Sie dachte daran, Duncans Darbietung in ihr Programm zu integrieren. Das war ein wichtiger Schritt vorwärts, denn bei den Duncans war nun lange schon Ebbe in der Kasse. Einiges Hin und Her gab es in Fragen der Musik. Würde auf einer großen Bühne Mrs Duncan oder jemand anderes am Piano zur Begleitung ausreichen oder brauchte man nicht gar ein ganzes Orchester? Das aber war kostspielig. Und immer wieder erhob sich die leidige Frage, was denn zu spielen sei. Es war seinerzeit unüblich, dass sich Tänzerinnen von einer Musik begleiten ließen, die nicht ausdrücklich als Ballett- oder Tanzmusik komponiert und gekennzeichnet worden war. Das aber taten sowohl Duncan als auch Fuller – sie tanzten nach großen Musikwerken der klassischen und romantischen Epoche, wobei Isadora es nicht richtig fand, zu sagen, sie tanze »nach Schuberts Ave Maria«, sondern darauf bestand, dass sie diese Klänge quasi verkörpere. Bei den Puristen unter den Verehrern von Brahms und Beethoven war indes eine solche Zweckentfremdung der Musik – wie sie es verstanden – irgendwie unerlaubt. Die Tänzerinnen mussten sich allerlei Vorwürfe anhören, etwa, dass sie Werke entweihten, die doch zum Hören mit geschlossenen Augen bestimmt seien. Aber das focht beide nicht an. Sie wussten, dass das, was sie mit ihren Körpern taten, nicht hinter der sublimen Ausdruckskraft zurückstand, die »ihre« großen Komponisten besessen hatten. Und Mrs Duncan ermunterte ihre Tochter, sich immer wieder neuen musikalischen Inspirationen für ihre Tänze auszusetzen. Raymond hatte einen interessanten Auftrag aus Amerika erhalten, er sollte dort eine Konzerttournee begleiten und packte seine Koffer. Jetzt wollte er aber noch schnell dafür sorgen, dass seine Schwester mit den neuesten musikalischen Meisterwerken vertraut würde. »Du musst zu Richard Wagner tanzen«, sagte er und brachte die Noten des Klavierauszugs vom Bacchanale aus dem Tannhäuser mit und dazu noch Isoldes Liebestod. »Wie für dich geschrieben«, sagte er zu seiner Schwester, bevor er sich verabschiedete.
Eines Tages im November klopfte es an die Tür des Ateliers, und herein trat ein Herr im Pelzmantel. Er stellte sich als deutscher Theateragent und Direktor »der größten Varietébühne Berlins« vor und bot Isadora einen Vertrag über 500 Mark pro Abend. Das war eine hohe Summe! Isadoras Augen glänzten, aber sie war vorsichtig.
»Berlin?«, fragte sie. »In welchem Rahmen würde ich dort auftreten?«
»Sie werden als die erste Barfußtänzerin der Welt annonciert werden«, sagte der Direktor und strahlte über das ganze Gesicht. Isadora sah an ihm vorbei.
»Mein Herr«, sagte sie streng, »von meiner Kunst machen Sie sich völlig falsche Vorstellungen. Niemals werde ich es zulassen, dass man mich als Barfußtänzerin bezeichnet,