«Wir planen gerade die Jasper-Story», sagte Reich. «Wenn du also eine Story hast, die wir nicht auf morgen verschieben können, muss sie schon umwerfend sein. Denn die Jasper-Story ist wirklich …»
«Das hat mit Jasper nichts zu tun», warf Haberer ein. «Das ist besser! Und schieben kann man diesen Brüller auf keinen Fall, denn andere Journalisten sind ebenfalls daran. Aber ich habe sie natürlich als Erster.»
Sandra konnte sich nicht vorstellen, was am heutigen Tag die Jasper-Story noch toppen könnte. Trotzdem machte sie sich Sorgen um ihren Aufmacher. Falls Haberer tatsächlich einen Knaller hatte, wäre sie mit ihrem Jasper-Artikel weg von Seite 1.
«Ist das die Sache, die du mal kürzlich erwähnt hast?», fragte Peter Renner. «Hast du sie jetzt hart?»
«Nein, das ist eine andere. Aber diese hier ist knallhart!», prahlte Haberer.
«Na, dann schiess endlich los.» Reich versuchte, Haberers Show ein bisschen zu beschleunigen.
«Okay», setzte Haberer an. «Stellt euch vor, unsere Armee, das Fundament unserer Demokratie, anerkannt vom Volk und von der ganzen Welt, diese Armee also, die uns durch den 2. Weltkrieg, durch den Kalten Krieg …»
«Mach einen Punkt», unterbrach Unterhaltungschefin Jeannette Kohli den Politik-Chef. «Dein Pathos ist völlig daneben. Die Armee steckt seit Jahren in der Krise und sucht nach irgendwelchen Feinden und Aufgaben. Und auch das Volk ist gespalten und steht überhaupt nicht dahin …»
«Kommt zur Sache», mahnte Reich noch einmal.
«Gut», sagte Haberer, lehnte sich zurück und schrieb mit der rechten Hand grosse Buchstaben in die Luft.
«Die Schlagzeile lautet», sagte er endlich, «Armee plant, sich selbst abzuschaffen!»
BERGHOTEL FAULHORN
Auf 2681 Metern über Meer herrschte reger Betrieb. Zwar waren die Asiaten und die anderen Tagestouristen längst gegangen, doch nun bevölkerten Wanderer, Bergsteiger, Mountainbiker und Gleitschirmflieger das Faulhorn. Sie waren heraufgekommen, um hier oben zu übernachten. Sie kamen im Berghotel an, deponierten in einem separaten Raum ihre Sportgeräte – Walking-Stöcke, Rucksäcke, Bikes, Gleitschirme –, zogen die Schuhe aus und schlüpften in Hüttenfinken. Danach gingen sie ins Massenlager oder tranken auf der Terrasse einen Tee, manche auch ein Bier oder einen Weisswein.
Alex und Henry fielen allein schon deshalb auf, weil sie nicht wie Bergsportler gekleidet waren. Alex trug Jeans, statt einer Windjacke oder einem Pullover hatte er nur eine schwarze Jeansjacke dabei, die er sich wegen der Hitze um die Hüften gebunden hatte. Er hatte nicht mit einem längeren Aufenthalt in den Bergen gerechnet und sich deshalb am Morgen für ein Outfit entschieden, in dem er durchaus zu einem Interview im Büro hätte erscheinen können. Henry trug Marken-Jeans und ein weisses Hemd. Die Bügelfalten waren zwar noch erkennbar, das Hemd jedoch war zerknittert und durchgeschwitzt. Jacke hatte er keine dabei, denn das edle Veston hatte er im Auto gelassen. Henry hatte eine kurze Nacht hinter sich, da er an einer Party für die «Aktuell»-Unterhaltungsabteilung einige Prominente hatte fotografieren müssen. Weil er im Laufe des Abends ziemlich viel getrunken hatte, schlief er einige Stunden im Auto. Danach wollte er nach Hause, aber sein Chef Sébastien Constantin hatte ihn vorher geweckt und mit dem Ausflug in die Berge überrascht.
Die beiden Reporter fielen aber vor allem auf, weil Henry einen Wutanfall bekam, als Berghotelwirt und Hüttenwart Balmer ihnen nun mitteilte, dass es erstens keine Einzelzimmer gebe und zweitens die wenigen Zwei- und Dreibettzimmer bereits belegt seien.
«Das heisst, wir sollen im Massenlager bei diesen stinkenden Bergfuzzis pennen?», schnaubte Henry.
«Tut mir leid, ich habe es Peter gesagt, als er mich vorhin angerufen hat», sagte Balmer.
«Was, der Renner, der hat das gewusst? Und wir Idioten kraxeln da hinauf? Und jetzt müssen wir alles wieder hinunter, und bis wir an der Bergstation sind, fährt diese Scheissbahn nicht mehr.»
«Genau, die macht Schluss», sagte Balmer. «Es ist bald 18 Uhr.»
«Das darf nicht wahr sein!»
«Wir sind in den Bergen, nicht in Zürich.»
«Diese Scheisse, oh Mann, ich reiss dem Renner den Kopf ab.»
Henry liess seine Fototasche und seinen Rucksack mit dem Laptop einfach stehen und ging hinaus.
Alex wollte sich bei Balmer entschuldigen.
«Vergiss es, dein Fotograf ist eben ein Stadtmensch», sagte Balmer. «Also willkommen, ich bin Fritz. Kenne Peter Renner von früher.» Er lachte kurz, fuhr mit der Hand erst über seinen dunklen Dreitagebart, danach durch die halblangen, schwarzen, gelockten Haare. Dann sagte er: «Damals war er noch Sportreporter und ich ein irrer Skifahrer.»
«Oh, hoffentlich erfolgreich», sagte Alex.
«Ja, im Training und bei den Zwischenzeiten der Rennen. Dann bin ich dummer Hund meistens entweder an einem Tor vorbeigerast, oder ich habe mich mit einem Salto mortale von der Piste verabschiedet. Na ja, irgendwann hatte ich die Verletzungen satt, übernahm das Sportgeschäft meiner Eltern, verdiente ganz gut und kaufte dann dieses Berghaus.»
«Tja, und Renner ist News-Chef bei ‹Aktuell› geworden.»
Ja, ja, der Peter, auch ein verrückter Kerl. Hatten es immer lustig. Ich trank abends eben gerne ein, zwei, drei Biere. Die anderen Jungtalente gingen ins Krafttraining oder ins Bett. Ich machte Party. Oft sogar mit Peter.»
Fritz Balmer steckte seine grossen Hände in die Taschen seiner beigen Cargo-Hose und schwieg einen Moment.
Er träumt wohl von alten Zeiten, dachte Alex.
Dann sagte Balmer: «Renner erzählte mir, ihr sucht Jaspers Hund.»
«Ja, aber ich weiss nicht, wie wir das anstellen sollen.»
«Wir gehen morgen in aller Frühe los. Ich komme mit euch. Im Herbst gehe ich jeweils auf die Jagd, ich kenne hier oben jeden Winkel. Den finden wir schon.»
«Super. Hast du heute die Schüsse auch gehört?»
«Nein, ich war im Keller und habe Leitungen repariert. Aber ein Wanderer hat mich schon danach gefragt.»
«Was könnten diese Schüsse bedeuten, ist das normal?»
«Nein, ich wundere mich auch.»
«Na ja …»
«Du meinst doch nicht, Jaspers Hund wurde erschossen?», fragte Balmer.
«Renner denkt das wohl.»
«Dann sollten wir das auch denken.»
Alex packte Henrys Sachen und ging auf die Terrasse. Dort sass Henry an einem Tisch und strahlte über das ganze Gesicht.
«Was ist denn mit dir los?», fragte Alex. «Nicht mehr sauer?»
«Oh, nein, alles bestens», meinte Henry und grinste.
«Und warum dieser Sinneswandel?»
«Das wirst du gleich sehen.»
Eine halbe Minute später kam eine junge Frau aus der Küche, auf dem Serviertablett balancierte sie eine Flasche Bier und ein Glas. Mit jedem Schritt, den die junge Frau näher kam, verstand Alex den Grund für Henrys Strahlen besser. Die Frau war sehr hübsch, gross, ungeschminkt, hatte dunkle Locken und leuchtend blaue Augen.
«Danke, Tina», sagte Henry. «Das ist Alex, unser Starreporter.»
«Hi, freut mich. Was möchtest du?»
«Dasselbe», sagte Alex und fühlte sich gerade so, als hätte er zum ersten Mal in seinem Leben mit einem Mädchen geredet.
«Guck dir das an», flüsterte Henry zu Alex, als Tina zurück ins Haus