»Ja, ja«, mischte Daisy sich ein. »Sie haben haufenweise Geld. Je mehr man spendet, desto wahrscheinlicher ist es nämlich, dass der Hauch-des-Lebens feststellt, dass man in einem früheren Leben ein König oder eine Königin war, und genau das will jeder hören.«
»Jeder?«, wiederholte ich.
»Tja, also ich war in einem früheren Leben eine Königin«, sagte Daisy. »Das liegt auf der Hand. Aber wenn ich wollte, dass der Hauch-des-Lebens mir das bescheinigt, müsste ich ihnen Tausende und Abertausende an Pfund zahlen. Diese Leute da drüben sind die wichtigsten Mitglieder der Gesellschaft, also sind sie natürlich alle Reinkarnationen von Tutanchamun und Kleopatra und so weiter. Angeführt wird die Gesellschaft von einer gewissen Mrs Theodora Miller, die sich für die wiedergeborene Hatschepsut ausgibt – und sich nebenbei für die mächtigste Person im Universum überhaupt hält.«
»Was eine glatte Lüge ist!«, platzte Amina heraus. Vor Zorn wurde sie rot im Gesicht – man sah deutlich, wie sehr sie die Sache ärgerte. »Sie verdrehen alles – an so etwas haben die Alten Ägypter nie geglaubt.«
»Welche ist Theodora Miller?«, fragte ich neugierig, während ich die weiblichen Mitglieder des Hauch-des-Lebens musterte. Sie alle sahen aus wie x-beliebige englische Ladys, denen man in Deepdean begegnen mochte.
»Die kleine Pummelige.« Daisy nickte zu einer kleinen, rundlichen Frau mittleren Alters mit sandfarbenem Haar, die neben der großen, knochigen Dame stand. Ich blinzelte. Mit einer Königin, welcher Art auch immer, hatte sie so gar keine Ähnlichkeit.
Doch dann sagte der Hotelportier etwas, zog nervös den Kopf ein und Theodora Miller richtete sich schlagartig zu ihrer vollen Größe auf, während ihr Busen vor Wut bebte.
»Das ist INAKZEPTABEL! Wissen Sie denn nicht, wer ich bin, Bursche?«, brüllte sie, dass man sie in der gesamten Lobby hören konnte. Da erkannte ich, dass ihre Erscheinung trügerisch war. Diese Frau, so klein sie auch war, war verbissen und furchteinflößend. Ich war fasziniert.
In diesem Augenblick, gerade als ich meine Familie völlig vergessen hatte, wurden die Türen zur Hotellobby von den Portieren geöffnet und meine kleinste Schwester May flitzte herein, schlitterte über den polierten Marmorboden und ruderte vor Aufregung mit den Armen.
Der Hauch-des-Lebens würde warten müssen.
»GROSSE SCHWESTER!«, schrie May, huschte um mehrere erschrockene Hotelgäste in Abendgarderobe herum und stürzte sich auf mich, um sich absolut begeistert an meiner Taille festzuklammern. Ich beugte mich nach unten, um sie zu umarmen – sie duftete nach Reise, Schmutz und May, ein heller Geruch, ein bisschen wie von Orangen –, und sie schaute zu mir hoch und schrie: »Ich bin jetzt SECHS, Große Schwester! SECHS!«
»Du bist schon so groß, Äffchen«, sagte ich lächelnd zu ihr.
»Rose und Vater und Pik An kommen auch, nur sind sie LANGSAM«, erklärte May. »Das Schiff hat so lange gebraucht, Hazel. Rose hat sich gelangweilt, aber Rose ist ja auch langweilig und will immer nur Bücher lesen, also kein Wunder. Ich habe mich gar nicht gelangweilt – ich habe Piratin gespielt und bin über die Brücke gesaust, um sie zu kapern – nur hat mich der Kapitän ausgelacht und mich zum Tee eingeladen. Und dann durfte ich kurz das Schiff steuern!«
Als ich aufblickte, stand da meine mittlere Schwester, Rose, in einem geblümten Reisekleid. Elegant und neugierig wirkte sie. Ihr Haar war sorgsam geflochten und hinter ihr schnaufte unter einem Berg von Koffern ihre Magd Pik An. Sie nickte mir zu und ich winkte ihr. Ich freute mich riesig, sie zu sehen.
»Hazel, du siehst so alt aus, wie eine Erwachsene. Wirklich wahr –«
»Ach, sei still, Äffchen«, sagte ich, gab ihr einen zärtlichen Schubs und fand mich dann auch in Roses Umarmung wieder, die etwas steif ausfiel – oder vielleicht war auch ich diejenige, die schüchtern war. Sie hielt eins ihrer Lieblingsschulgeschichtenbücher in der Hand, das mich pikte, als ich sie drückte.
»Hallo, Wong Fung Ying«, sagte mein Vater. Als ich aufsah, streckte er in einem Nadelstreifenanzug mit glänzend goldenen Manschettenknöpfen seine vertrauten, kantigen Hände mit den dicken Knöcheln nach mir aus.
»Hallo, Vater«, sagte ich, ebenso schüchtern wie Rose.
»Es ist schön, dich zu sehen, Hazel«, sagte mein Vater – und da begriff ich, dass er sich nicht über mich ärgerte, kein bisschen. Im nächsten Moment blieb mir beinahe die Luft weg, als ich an seiner Brust klebte, so fest, wie May mich umarmt hatte.
»Ich habe dich vermisst, Vater«, sagte ich etwas gedämpft.
»Ich dich auf, mein liebes Mädchen«, erwiderte mein Vater – und gleich aus mehreren Gründen bekam ich deswegen ein schrecklich schlechtes Gewissen. »Aber nun erzähl, wie läuft es an der Schule? Bekommst du die bestmöglichen Noten? Soweit ich mich erinnere, hast du im Sommer keine Auszeichnung erhalten, und ich hätte gerne gewusst, warum.«
Und während May uns alle hinaus zu den Wagen schleppte, die darauf warteten, uns zum Abendessen zu den El Maghrabis zu bringen, blickte ich noch einmal zum Hauch-des-Lebens und ging davon aus, sie zum letzten Mal gesehen zu haben.
Selbstverständlich sollte ich mich ordentlich täuschen.
6
Am Tag danach brachen wir auf zum Nil.
Man fuhr uns in zwei der schicken schwarzen Wagen von Aminas Eltern zum Bab-al-Hadid-Bahnhof, wo wir von Lärm, Staub und sengender Sonne empfangen wurden. Kofferträger mit Turban und Dschallabija eilten hin und her, unsere Koffer alarmierend hoch gestapelt (mein Vater und meine Schwestern waren nicht gerade mit leichtem Gepäck unterwegs), während Pik An und Miss Beauvais sie anflehten, vorsichtig zu sein. Ich sah mir die gigantische Steinstatue an, die auf dem Bahnhofsvorplatz stand. Es war ein Wesen mit Löwenpfoten und einem Menschenkopf, eingerahmt von einem enormen Kopfschmuck, das neben einer Frau kauerte, die stolz in die Ferne blickte und einen Arm hob, um das Tuch aus ihrem Gesicht zu heben. Ich fand es wunderschön, wenn auch sehr merkwürdig.
»Nahdet Misr«, sagte Mr El Maghrabi mit einem Wink zur Statue. »Ägyptens Vergangenheit – die Sphinx – und seine Zukunft: seine Frauen. Amoona, Habibti, vergiss nicht, den Mädchen von deiner Geschichte zu erzählen. Sei stolz darauf!«
»Ja, Baba«, sagte Amina, ausnahmsweise mit ernstem Gesicht. »Das werde ich.«
Von Bab al-Hadid aus nahmen wir den Nachtexpress nach Luxor. Als die Sonne unterging, schaute ich aus dem Zugfenster und sah Rechtecke aus saftigem grünen Gras und hohem, spitzem Zuckerrohr, flankiert von Palmen mit dunklen Wedeln und schmalen Wasserläufen, die den Himmel reflektierten. Neben Lehmhäusern standen Kühe und Esel und davor saßen Menschen mit angezogenen Knien und baumelnden Armen, die lachten und sich unterhielten. Der Himmel war rosa, zitronengelb und cremeorange, ruhig, mit nur wenigen Klecksen dunkler Wolken.
Der Zug war nahezu leer. Während wir auf das Abendessen warteten und darauf, dass unsere Schlafwagenabteile bereit gemacht wurden, hatten wir einen ganzen Waggon für uns allein. May baute unter den Sitzen ein Fort und platzte von Zeit zu Zeit hervor, um uns als uraltes Seemonster anzugreifen (Pik An musste überrascht spielen). Rose las Millie aus der zehnten Klasse, mein Vater löste ein Kreuzworträtsel, Miss Beauvais schnarchte und Daisy tigerte ruhelos hin und her. Ich wusste genau, dass sie an unsere letzte gemeinsame Zugreise denken musste und daran, was während dieser Fahrt passiert war.
»Bist du schon aufgeregt?«, fragte Amina leise und sah mich von der Seite an. In Ägypten