127
Mit Urteil vom 19.3.2002 hatte das BSG[57] bei gleichzeitiger Präzisierung der Ausnahmevoraussetzungen gegenüber der Remedazenentscheidung[58] den „Off-Label-Use“, d.h. den zulassungsüberschreitenden Einsatz eines Arzneimittels, ausnahmsweise in bestimmten Fällen als erstattungsfähig anerkannt. Nach dieser Rechtsprechung erfolgt der Einsatz nur mit Arzneimitteln, die für andere Indikationen zugelassen sind, also arzneimittelrechtlich unbedenklich sind:[59]
– | Einsatz bei einer schwerwiegenden, regelmäßig tödlich verlaufenden Erkrankung, |
– | Fehlen einer vertretbaren anderen Behandlungsalternative, |
– | Konsens in den einschlägigen Fachkreisen über den voraussichtlichen Nutzen des zulassungsüberschreitenden Einsatzes des Arzneimittels. |
128
Von derartigem Nutzen könne ausgegangen werden, wenn aufgrund der Datenlage die begründete Aussicht auf einen Behandlungserfolg bestehe. Dies sei dann der Fall, wenn die Zulassung für die neue Indikation beispielsweise beantragt oder die Ergebnisse einer klinischen Prüfung der Phase III veröffentlicht seien. Die Entscheidung vom 19.3.2002[60] verlangt letztlich noch zuverlässige, wissenschaftlich nachprüfbare Aussagen und Konsens in den einschlägigen Fachkreisen über den voraussichtlichen Nutzen. Auf dieser Grundlage ist durch die Bundesregierung die Expertengruppe „Off-Label“ beim Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) eingerichtet worden.[61]
129
Mit der Entscheidung des BSG v. 19.10.2004[62] erfolgte eine weitere Öffnung des Arzneimitteleinsatzes, und zwar für die Fälle, in denen eine systematische Erforschung der Krankheit wegen ihrer Seltenheit praktisch ausgeschlossen ist und weil in diesen Fällen regelmäßig auch nicht mit entsprechenden Empfehlungen des G-BA zu rechnen ist.
130
Der bislang bereits sehr begrenzte Einsatz nicht zugelassener Arzneimittel ist durch den Nikolaus-Beschluss des BVerfG v. 6.12.2005[63] weiter geöffnet worden. Versicherte können in notstandsähnlichen Situationen unter engen Voraussetzungen die Versorgung mit arzneimittelrechtlich in Deutschland und der EU nicht zugelassenen Arzneimitteln beanspruchen. Dieses Recht folgt unmittelbar aus dem Grundrecht der allgemeinen Handlungsfreiheit des Art. 2 Abs. 1 GG als der Versicherungspflicht unterworfenem Mitglied der gesetzlichen Krankenversicherung und der grundrechtlichen Schutzpflicht des Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG auf Mindeststandards.[64] Die grundsätzlichen Annahmen für den Einsatz nicht zugelassener Arzneimittel dürften hiernach gegeben sein, wenn
– | eine lebensbedrohliche oder regelmäßig tödlich verlaufende Krankheit vorliegt, |
– | bezüglich dieser Krankheit keine allgemein anerkannte dem medizinischen Standard entsprechende Behandlung zur Verfügung steht, |
– | der Einsatz des Arzneimittels beim Versicherten auf einer auf Indizien gestützten nicht ganz fern liegenden Aussicht auf Heilung oder spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf beruht. Auf den Konsens der einschlägigen Fachkreise kommt es nicht an. |
131
Das BSG hat die Kriterien nach Maßgabe des BVerfG in einem außergewöhnlichen prozessualen Verfahren zur Darstellung rechtlicher Voraussetzungen in einem Vergleich herausgearbeitet[65] und in weiteren Entscheidungen konkretisiert.[66]
– | Es dürfe zur Annahme des ausnahmsweisen Einsatzes zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung kein Verstoß gegen das Arzneimittelrecht vorliegen. |
– | Es bedürfe einer abstrakten und individuellen Betrachtung der gebotenen Wahrscheinlichkeit und einer konkreten Analyse und Abwägung von Chancen und Risiken des voraussichtlichen Nutzens. |
– | Zudem müsse die Behandlung regelmäßig fachärztlich nach den Regeln der ärztlichen Kunst durchgeführt und ausreichend dokumentiert sein. |
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Wenn nun aber ein Konsens der einschlägigen Fachkreise nicht mehr gefordert wird, dürfte es ausreichen, wenn die Entscheidung für den „Off-Label-Use“ auf besonderer ausgewiesener ärztlicher Fachkunde und Erfahrung beruht.[67]
133
Die untergerichtliche Rechtsprechung dehnt den Anwendungsbereich des „Off-Label-Use“ z.T. weiter aus,[68] und zwar auf Krankheiten, die zwar nicht lebensbedrohlich sind, die aber zu gravierenden Folgen führen. Dieser Ansatz ist nach der Rechtsprechung des BSG[69] aber nicht tauglich, da jede unterlassene Behandlung einmal zur Lebensbedrohung führen kann,[70] dennoch reicht es aus, wenn die Krankheit lebensbedrohlich ist oder jedenfalls vergleichbare schwere, unzumutbare Folgen nach sich zieht. In mehreren Verfahren hat das BSG zwischenzeitlich mit Urteilen v. 13.10.2010 den Begriff einer notstandsähnlichen Lage auf lebensbedrohliche Lagen konkretisiert.[71] Hierunter fällt bei palliativer Versorgung nicht die Behandlung von Folgen einer lebensbedrohlichen Grunderkrankung.
134
Tipp
Bei Fragen des „Off-Label-Use“ wird empfohlen, aus dem Fundus der aktuellen Rechtsprechung zu schöpfen. Dazu dient in hervorragender Weise der RID Rechtsprechungsinformationsdienst der Deutschen Gesellschaft für Kassenarztrecht www.de-kassenarztrecht.de. Wer sich mit Fragen des „Off-Label-Use“ befassen muss, kommt an der Ausarbeitung von Hart Off-Label-Use, Heidelberger Kommentar zum Arztrecht, Krankenhausrecht und Medizinrecht Nr. 3910 nicht vorbei. Eine systematisierte Datenbank mit Entscheidungssuchmaschine u.a. zum „Off-Label-Use“ finden Sie zudem unter www.nikolaus-beschluss.de.
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Die Rechtsprechung hatte dazu geführt, dass nach § 36b Abs. 3 SGB V (a.F.) nunmehr der G-BA verpflichtet war, in Beratung durch eine Expertengruppe des BfArM in den Arzneimittelrichtlinien nach § 92 Abs. 1 Nr. 6 i.V.m. § 139b Abs. 4 SGB V ein Verzeichnis für Off-Label-Indikationen von Arzneimitteln zu schaffen. Der pharmazeutische Unternehmer muss aber der Aufnahme aus Gründen der damit verbundenen Haftungsübernahme zustimmen. Dies ist durch Aufnahme von Abschnitt K Anlage VI über die Verordnungsfähigkeit von Arzneimitteln in nicht zugelassenen Anwendungsgebieten (Off-Label-Use) geschehen.[72]
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Diese Regelungen des § 36 Abs. 3 S. 1 SGB V (a.F.) i.V.m. dem AMG sind durch das GKV-VStrG aufgrund der klarstellenden Regelung des § 2 Abs. 1a SGB V i.V.m. § 35c Abs. 1 SGB V für den Bereich des zulassungsüberschreitenden Off-Label-Use modifiziert worden.[73]
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Für den zulassungsüberschreitenden Einsatz im Rahmen klinischer Studien hat der Gesetzgeber im GKV-WSG durch Schaffung des § 35c Abs. 2 SGB V entsprochen. Die Verabreichung von nicht zugelassenen Medikamenten in klinischen Studien ist dann möglich, wenn hierdurch eine therapierelevante Verbesserung der Behandlung einer schwerwiegenden Erkrankung im Vergleich zur bestehenden Behandlungsmöglichkeit zu erwarten ist und wenn die damit verbundenen Mehrkosten in einem angemessenen Verhältnis zum erwarteten medizinischen Zusatznutzen stehen. Die Verordnung kann nur im Rahmen ambulanter Behandlung im Krankenhaus oder durch Hochschulambulanzen erfolgen. Auf die zu erwartenden Richtlinien des G-BA wird verwiesen.
138
Tipp
Das