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Schon von ganz anderer Qualität war die Einschränkung des Beweisantragsrechts in der Verordnung des Reichspräsidenten auf dem Gebiete der Rechtspflege und der Verwaltung vom 14.6.1932[10], welche den Tatrichter am Amtsgericht sowie in Berufungssachen am Landgericht von der Erhebung präsenter Beweise freistellte und den Umfang der Beweisaufnahme in das Ermessen des Gerichts zurückgab; damit blieb von einem Recht, einen Beweis zu beantragen, nicht mehr viel. Schon aus der Konzentration dieser Gesetzesänderung auf bestimmte Gerichte lässt sich ablesen, dass dieser Schlag gegen das Beweisantragsrecht nicht aus grundsätzlichen, sondern aus ökonomischen Motiven geführt wurde. Es war die wirtschaftliche Not der Zeit, welche eine Vereinfachung und Beschleunigung der Verfahren nahe legte.[11] Diesem Ziel standen natürlich die Interventionsrechte des Beschuldigten, insbesondere das Beweisantragsrecht, im Wege; diese Rechte können das Verfahren verzögern und verteuern.
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Dass in den ersten Jahren nach 1933 die „Gleichschaltung“ der Justiz noch nicht vollständig gelang, dass vielmehr Reformbestrebungen aus der Weimarer Zeit noch eine Chance hatten, lässt sich auch im Beweisantragsrecht studieren. Das Gesetz zur Änderung von Vorschriften des Strafverfahrens und des GVG vom 28.6.1935[12] sah zwar eine Pflicht zur Erhebung präsenter Beweise nicht vor, übernahm aber für große Teile der Strafrechtspflege die vom Reichsgericht entwickelten Grundsätze zum Beweisantragsrecht. Vor dem Amtsgericht und dem Landgericht in Berufungssachen stellte das Gesetz die Beweisaufnahme in das Ermessen des Tatrichters. Für die anderen Tatgerichte wurden jedoch die möglichen Ablehnungsgründe für Beweisanträge formalisiert. Diese Formalisierung entsprach der Regelung, wie sie § 244 Abs. 3 StPO heute vorsieht. Der Gesetzestext erhielt folgende Fassung:
§ 244
(1) Nach der Vernehmung des Angeklagten folgt die Beweisaufnahme.
(2) Das Gericht hat von Amts wegen alles zu tun, was zur Erforschung der Wahrheit notwendig ist.
§ 245
(1) In Verhandlungen vor dem Amtsrichter, dem Schöffengericht und dem Landgericht in der Berufungsinstanz darf das Gericht einen Beweisantrag ablehnen, wenn es nach seinem freien Ermessen die Erhebung des Beweises zur Erforschung der Wahrheit nicht für erforderlich hält. Dies gilt auch in anderen Verhandlungen für den Beweis durch Augenschein oder durch Sachverständige.
(2) Im übrigen kann in der Verhandlung vor den Gerichten, bei denen nach dem Gesetz allgemein die Berufung ausgeschlossen ist, die Erhebung eines Beweises nur abgelehnt werden, wenn die Erhebung des Beweises unzulässig ist, wenn wegen Offenkundigkeit eine Beweiserhebung überflüssig ist, wenn die Tatsache, die bewiesen werden soll, für die Entscheidung ohne Bedeutung oder schon erwiesen ist, wenn das Beweismittel völlig ungeeignet oder wenn es unerreichbar ist, wenn der Antrag zum Zwecke der Prozessverschleppung gestellt ist oder wenn eine erhebliche Behauptung, die zur Entlastung des Angeklagten bewiesen werden soll, so behandelt werden kann, als wäre die behauptete Tatsache wahr.
(3) Die Ablehnung eines Beweisantrages bedarf eines Gerichtsbeschlusses.
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Es überrascht nicht, dass das Beweisantragsrecht unter der nationalsozialistischen Rechtspolitik nicht überleben konnte; es passte nicht zu der harmonistischen Verkleisterung, die vorgaukelte, dass alle Beteiligten gemeinsam nach Wahrheit und Gerechtigkeit im Strafverfahren suchen sollen. Unter der Flagge der „Vereinfachung“ der Strafrechtspflege wurde das Beweisantragsrecht durch die Verordnung vom 1.9.1939[13] und durch die Verordnung vom 13.8.1942[14] ausradiert. Es begann mit der Aufhebung des Verbots der Beweisantizipation, was dem Beweisantragsrecht das Rückgrat brach. Ob der Richter einem Beweisantrag folgte, wurde in sein freies Ermessen gestellt; eine Ablehnung wurde erlaubt, wenn die Beweiserhebung nicht erforderlich war. 1942 folgte dann auch noch die Beseitigung des Rechts auf unmittelbare Ladung.[15]
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Das „Vereinheitlichungsgesetz“ vom 12.9.1950[16] führte die Absätze 3–6 des § 244 StPO und damit das Beweisantragsrecht wieder ein. In § 245 i.V.m. § 220 StPO wurde die unmittelbare Ladung von Zeugen und Sachverständigen durch den Angeklagten normiert. Das Strafprozessänderungsgesetz vom 19.12.1964 dehnte § 166 StPO auf Vernehmungen durch die Ermittlungsbehörden aus (§ 163a Abs. 2 StPO) und das Strafverfahrensänderungsgesetz 1979 fasste § 245 StPO neu, indem es Beschränkungen bei der Erhebung präsenter Beweise vorsah.[17]
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Auf alte Rezepte zurückgegriffen hat der Gesetzgeber dann im Zuge der Anfang der 80er Jahre einsetzenden Diskussion über die Notwendigkeit einer Justizentlastung.[18] Unter dem Eindruck einer Reihe langwieriger Großverfahren und vielfältiger Klagen aus der Praxis geriet das Beweisantragsrecht ins Schussfeld moderner Justizreformer. Der extensive Gebrauch dieses Rechts war nach Meinung mancher Autoren einer der Gründe für die Verzögerung vieler Strafverfahren. Zur Debatte standen deshalb außerordentlich weit reichende Einschränkungen des Beweisantragsrechts, ohne dass die dem zugrunde liegende Annahme, gerade der (wirkliche oder angebliche) Missbrauch des Beweisantragsrechts führe zu ungewollten Verfahrensverzögerungen, empirisch belegt war – heute gibt es Belege für das Gegenteil. Anlass zu Kritik mag dabei hintergründig auch die Kombination einer Androhung von Beweisanträgen mit Verhandlungen über eine einvernehmliche Verfahrensbeendigung gewesen sein.
Der Gesetzgeber hat sich im Ergebnis den aus der Praxis gestellten Forderungen nicht vollständig unterworfen; er hat sie jedoch auch nicht vollständig zurückgewiesen. Mit dem durch das Gesetz zur Entlastung der Rechtspflege vom 11.1.1993[19] eingefügten § 244 Abs. 5 Satz 2 StPO hat der Tatrichter die Befugnis erhalten, einen Beweisantrag auf Vernehmung eines Zeugen, dessen Ladung im Ausland zu bewirken wäre, nach den Maßstäben der Aufklärungspflicht zu bescheiden, d.h. er ist nicht an die Ablehnungsgründe des § 244 Abs. 3 StPO gebunden, wenn er einen derartigen Antrag ablehnen will. Weitere Beschränkungen des Beweisantragsrechts enthalten § 420 Abs. 4 StPO für das beschleunigte Verfahren sowie § 411 Abs. 2 Satz 2 StPO für das Strafbefehlsverfahren, eingefügt durch das Verbrechensbekämpfungsgesetz vom 28.10.1994.[20]
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Wiederum mit Blick auf eine erhoffte Entlastung der Justiz und eine Beschleunigung der Strafverfahren hat der Gesetzgeber im Jahr 2017 dann eine jahrzehntelang unangetastet gebliebene Grundnorm des Beweisantragsrechts nachhaltig verändert. Durch das Gesetz zur effektiveren und praxistauglicheren Ausgestaltung des Strafverfahrens vom 17.8.2017 wurde in § 244 Abs. 6 StPO dem Vorsitzenden die Befugnis eingeräumt, den Verfahrensbeteiligten eine Frist zur Stellung von Beweisanträgen zu setzen.[21] Wird nach Fristablauf ein Beweisantrag gestellt und dabei nicht hinreichend begründet, dass eine frühere Antragstellung nicht möglich war, darf das Gericht über diesen Antrag in den Urteilsgründen entscheiden. Der Antragsteller erfährt die Gründe für die Antragsablehnung mithin erst zu einem Zeitpunkt, zu dem er auf sie nicht mehr reagieren kann.[22]
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Im Jahr 2017 wurde ferner § 244 Abs. 5 StPO geändert.[23] Der neu in das Gesetz aufgenommene Satz 3 muss im Zusammenhang mit der Vorschrift des § 32e StPO gelesen werden. Ob die Bestimmung große praktische Bedeutung erlangen wird, bleibt abzuwarten.
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Im Ganzen macht die historische Entwicklung deutlich, dass das Beweisantragsrecht in Zeiten gedeiht, in denen Justizpolitik nicht vordringlich unter ökonomischen Zwängen betrieben wird und in denen eher die Rechtsposition des Beschuldigten im Strafverfahren