Dieses didaktische Ziel hat uns schon bei der Gestaltung der Sachverhalte geleitet. Um die Kunst der Auslegung von Rechtsgeschäften nach dem objektiven Empfängerhorizont (§§ 133, 157 BGB) zu erlernen, auf die es in unzähligen Fallgestaltungen ankommt, braucht man geeignetes, speziell darauf zugeschnittenes Fallmaterial. Die Fähigkeit zu überzeugender Argumentation ist von unschätzbarer Bedeutung für die erfolgreiche Begutachtung schwieriger Zivilrechtsfälle. Selbstverständlich besteht die juristische Ausbildung auch zu einem guten Teil aus dem Erlernen von Fachwissen. Die Wiedergabe dieses erarbeiteten Stoffs darf jedoch nicht zum Selbstzweck werden. Solides rechtliches Wissen bildet vielmehr die Grundlage für die handfeste Auseinandersetzung mit den konkreten Problemen des jeweiligen Einzelfalls. Darin liegt ein entscheidender Aspekt einer praxisgerechten Juristenausbildung. Nur wenn eine gerichtliche Entscheidung die Interessen der betroffenen Parteien berücksichtigt und sich damit inhaltlich auseinandersetzt, wird diese Entscheidung die Akzeptanz finden, derer sie für den Rechtsfrieden bedarf.
Nicht weniger bedeutsam für eine erfolgreiche Argumentation ist die Kunst der Rhetorik. Es genügt nicht, rechtliches Spezialwissen aus dem Gedächtnis abrufen zu können. Man muss es auch unter Zeitdruck mit knappen, prägnanten Formulierungen überzeugend zu Papier bringen können. Rhetorik ist die Kunst der wirkungsvollen Rede, die verschriftlichte Rede eingeschlossen. Das gilt für Examensklausuren ebenso wie für anwaltliche Schriftsätze und gerichtliche Urteilsbegründungen.
Die Fähigkeit der überzeugenden Rede will ebenfalls geübt werden. Auch aus diesem Grund haben wir für unseren Klausurenkurs Fälle ausgesucht, deren Gemeinsamkeit darin liegt, dass man über die vorzugswürdige – wenn man will: die richtige – Lösung herzhaft streiten kann. Es handelt sich nicht um sog. Einbahnstraßenfälle, die nur einen einzigen korrekten Lösungsweg (aner-)kennen wollen, den die Bearbeiter dann finden und einhalten müssen, wenn sie nicht scheitern wollen.
Es hat sich gezeigt, dass die 15 Fälle dieses Klausurenkurses weitgehend „zeitlos“ sind. Keiner von ihnen ist seit der 1. Auflage von 2012 in irgendeiner Weise veraltet; einige haben durch aktuelle Entwicklungen sogar noch an Aktualität hinzugewonnen, namentlich Fall 6 („Erkerzimmer“) zur Störung der Geschäftsgrundlage (§ 313 BGB). Dieses Rechtsinstitut steht durch die Corona-Krise vor neuen Herausforderungen als „zentrale Norm des Zivilrechts“ in der Bewältigung von Systemkrisen.[1] Das wird mit Sicherheit auch neuen Stoff für künftige Examensklausuren bieten.
Unsere Klausuren sind durchweg mehrfach erprobt, sei es als Originalklausur im Staatsexamen in Baden-Württemberg, sei es in Examensklausurenkursen an der Universität Mannheim. Die Erfahrungen aus den Korrekturen sind in die Erläuterungen der vertretbaren Lösungswege eingeflossen, und ebenso die Unterrichtserfahrung aus vielen Examenskursen. Mehrere der hier versammelten Fälle sind auch schon in zivilrechtlichen Moot Courts verwendet worden. So war Fall 5 („Speisekarte“) die Finalaufgabe des ELSA-Deutschland Moot Courts, die im Jahr 2009 in Karlsruhe verhandelt wurde; die Jury bestand aus fünf Richter(inne)n am Bundesgerichtshof. Fall 1 („Rittergut“) war eine Finalaufgabe eines Mannheimer Zivilrechts-Moot-Courts (Rechtsanwalt Wolfgang Schilling Moot Court). Den Vorsitz in der Jury führte Prof. Dr. Dr. h.c. Horst Hagen, ein ehemaliger Vizepräsident des BGH. Er ist am 5. Dezember 2019 verstorben. In seinen Lebenserinnerungen, die er im Jahr 2018 veröffentlichte, hat er auch auf sein langjähriges ehrenamtliches Engagement als Schirmherr und Vorsitzender dieses Moot Courts zurückgeblickt.[2] Wir werden Horst Hagen als Freund und Lehrer immer in dankbarer Erinnerung behalten.
In unseren Lehrveranstaltungen der letzten Jahre haben wir stets auf diesem Klausurenkurs aufgebaut, beginnend mit der Übung im Zivilrecht für Fortgeschrittene. Insoweit haben wir natürlich vor allem von den leichteren Fällen regen Gebrauch gemacht. Hinweise und Anregungen unserer Kursteilnehmer(innen) haben wir in Neuauflagen eingearbeitet. Literatur und Rechtsprechung sind durchweg auf dem aktuellen Stand. Die Erläuterungen zu einzelnen Fällen haben wir noch einmal im Ganzen gründlich durchgearbeitet, um den didaktischen Wert weiter zu verbessern, insbesondere Fall 10 („Wertpapierdepot“).
Unser Plädoyer für eine praxisorientierte Juristenausbildung, die viel Wert auf eine gelungene, an den Interessen der Beteiligten ausgerichteten Argumentation legt, spiegelt sich letztlich auch in unserem beruflichen Werdegang wider. Das Autorenteam besteht aus einer Praktikerin und einem Hochschullehrer. Birgit Schneider ist Richterin am Oberlandesgericht Karlsruhe und Honorarprofessorin an der Universität Mannheim, zuständig insbesondere für die Examenskurse zum Allgemeinen Teil des BGB und zum Zivilprozessrecht. Ulrich Falk ist Inhaber des Lehrstuhls für Bürgerliches Recht, Rhetorik und Europäische Rechtsgeschichte an der Universität Mannheim. Der Schwerpunkt seiner zivilrechtlichen Lehre liegt auf den Examenskursen zu den Gesetzlichen Schuldverhältnissen, zum Kreditsicherungsrecht und zum Erbrecht. Beide prüfen seit vielen Jahren regelmäßig in der ersten Staatsprüfung des Landes Baden-Württemberg. Falk wurde im Jahr 2006 zum Mitglied des Ständigen Ausschusses für die Erste Juristische Staatsprüfung im Justizministerium des Landes Baden-Württemberg bestellt. Diese Bestellung wurde mehrfach verlängert. Er ist jetzt das dienstälteste und erfahrenste Mitglied dieses Gremiums.
Mannheim, im Oktober 2020 Birgit Schneider Ulrich Falk
Anmerkungen
Stefanie Jung, Systemkrisen und das Institut der Störung der (großen) Geschäftsgrundlage, JZ 2020, 215, 224.
Horst Hagen, Bewegendes Leben in bewegten Zeiten. Bunte Lebenserinnerungen eines hohen Richters als Zeitzeuge und Mitgestalter, S. 282-284.
Inhaltsverzeichnis
Inhaltsverzeichnis
Schwerpunkte: Formbedürftigkeit von Grundstücksgeschäften, Unzulässigkeit der Berufung auf einen Formmangel nach Treu und Glauben, Wegfall der Geschäftsgrundlage, culpa in contrahendo bei formnichtigen Verträgen, positives und negatives Interesse bei Schadensersatzansprüchen aus culpa in contrahendo
Schwerpunkte: Abgrenzung von Vertrag und Gefälligkeitsverhältnis, Haftungsmaßstab der groben Fahrlässigkeit, Anwendungsbereich des Haftungsprivilegs des § 599 BGB, Integritäts- und Leistungsinteresse, Mitverschulden, Verschuldensfähigkeit von Minderjährigen im Straßenverkehr gem. § 828 II und III BGB, Haftung von Aufsichtspersonen gem. § 832 BGB, Auslegung von Gesetzen, Gesamtschuldnerausgleich
Schwerpunkte: Verkehrssicherungspflichten im vertraglichen und deliktischen Bereich, Vertragsschluss im Massenverkehr, haftungsbegründende Kausalität, Mitverschulden,