Hoheitsrechte im Sinne des Art. 23 Abs. 1 Satz 2 GG sind – ebenso wie bei Art. 24 Abs. 1 GG (Rn 111) – Hoheitsrechte des Bundes und der Länder. Dies ergibt sich schon positivrechtlich aus Art. 23 Abs. 5 Satz 2 und Abs. 6 GG. Dazu kommen die zu Art. 24 Abs. 1 GG vertretenen allgemeinen Überlegungen (Rn 111). Handelt es sich um die Übertragung von Hoheitsrechten der Länder, so kommen bei deren Wahrnehmung das Bundesratsverfahren gemäß Art. 23 Abs. 2 und Abs. 4 bis Abs. 7 GG und das Ausführungsgesetz Bundesrat (Sartorius I, Nr 97) zur Anwendung (s. dazu Rn 743 ff).
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Für den Begriff der Übertragung gilt das oben Ausgeführte (s. Rn 113). Die Übertragung von Hoheitsrechten auf die EU lässt sich als „staatsverfassungsrechtliche … Grundlegung der Unionsgewalt“ beschreiben (BVerfGE 123, S. 267 ff, 350). Auch damit wird zum Ausdruck gebracht, dass die Mitgliedstaaten „Herren der Verträge“ (EUV, AEUV) und der in diesen Verträgen eingeräumten Unionskompetenzen sind. Die Unionsgewalt ist also aus der staatsrechtlichen Perspektive des GG lediglich eine von den Mitgliedstaaten abgeleitete Hoheitsgewalt und deshalb der beliebigen Disposition der Union entzogen.
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Die Hoheitsrechtsübertragung kann nur „auf der Grundlage eines Integrationsprogramms nach dem Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung“ (BVerfGE 123, S. 267 ff, 347) (s. Rn 617 ff) erfolgen. Die Übertragungskompetenz des Bundes bezieht sich daher immer nur auf einzelne, der EU begrenzt eingeräumte Hoheitsrechte. Vor allem darf der EU keine sogenannte Kompetenz-Kompetenz gewährt werden, dh die Kompetenz, sich selbst allein mit Hilfe ihrer eigenen Organe weitere Kompetenzen, also neue Hoheitsrechte, zu Lasten der Mitgliedstaaten zu verschaffen (BVerfGE 126, S. 267 ff, 349, 352).
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Für die Übertragung von Hoheitsrechten ist ein förmliches Bundesgesetz erforderlich (Art. 23 Abs. 1 Satz 2 GG). Ebenso wie bei Art. 24 Abs. 1 GG (s. Rn 116) hat das Gesetz eine Doppelfunktion, da notwendigerweise auch noch Art. 59 Abs. 2 Satz 1 GG zur Anwendung kommt (vgl Streinz, in: Sachs, Art. 23, Rz 63).
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Der Gesetzesvorbehalt des Art. 23 Abs. 1 Satz 2 GG gilt dabei nicht für alle Arten von Integrationsakten. In bestimmten Fällen genügt ein schlichter Parlamentsbeschluss (s. Rn 136).
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Das Bundesgesetz iSv Art. 23 Abs. 1 Satz 2 GG muss insbesondere hinsichtlich des Integrationsprogramms und des Prinzips der begrenzten Einzelermächtigung hinreichend bestimmt sein. Eine gewisse Eigendynamik der EU nimmt aber das GG gleichwohl hin. Das dadurch auftretende Spannungsverhältnis zum Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung und zum Erfordernis eines hinreichend bestimmten Integrationsprogramms sucht das BVerfG durch das Postulat der Notwendigkeit einer „äußeren Kontrolle“ (die dann in der Konsequenz beim BVerfG selbst liegt, s. Rn 194 ff) zu lösen. Es hat dazu Folgendes ausgeführt (BVerfGE 123, S. 267 ff, 351 f):
„Jede Einfügung in friedenserhaltende Systeme, in internationale oder supranationale Organisationen eröffnet die Möglichkeit, dass sich die geschaffenen Einrichtungen, auch und gerade wenn deren Organe auftragsgemäß handeln, selbständig entwickeln und dabei eine Tendenz zu ihrer politischen Selbstverstärkung aufweisen. Ein zur Integration ermächtigendes Gesetz – wie das Zustimmungsgesetz (nach Art. 23 Abs. 1 Satz 2 GG, Anm. d. Verf.) – kann daher trotz des Prinzips der begrenzten Einzelermächtigung immer nur ein Programm umreißen, in dessen Grenzen dann eine politische Entwicklung stattfindet, die nicht in jedem Punkt vorherbestimmt sein kann. Wer auf Integration baut, muss mit der eigenständigen Willensbildung der Unionsorgane rechnen. Hinzunehmen ist daher eine Tendenz zur Besitzstandswahrung (acquis communautaire) und zur wirksamen Kompetenzauslegung im Sinne der US-amerikanischen implied powers-Doktrin … oder der effet utile-Regel des Völkervertragsrechts. … Dies ist Teil des vom Grundgesetz gewollten Integrationsauftrags.
Das Vertrauen in die konstruktive Kraft des Integrationsmechanismus kann allerdings von Verfassungs wegen nicht unbegrenzt sein. Wenn im europäischen Integrationsprozess das Primärrecht durch Organe verändert oder erweiternd ausgelegt wird, entsteht eine verfassungsrechtlich bedeutsame Spannungslage zum Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung und zur verfassungsrechtlichen Integrationsverantwortung des einzelnen Mitgliedstaates. Wenn Gesetzgebungs- oder Verwaltungszuständigkeiten nur unbestimmt oder zur dynamischen Fortentwicklung übertragen werden oder wenn die Organe Zuständigkeiten neu begründen, erweiternd abrunden oder sachlich ausdehnen dürfen, laufen sie Gefahr, das vorherbestimmte Integrationsprogramm zu überschreiten und außerhalb ihrer Ermächtigung zu handeln. Sie bewegen sich auf einem Pfad, an dessen Ende die Verfügungsgewalt über ihre vertraglichen Grundlagen steht, das heißt die Kompetenz, über ihre Kompetenzen zu disponieren. Eine Überschreitung des konstitutiven Prinzips der begrenzten Einzelermächtigung und der den Mitgliedstaaten zustehenden konzeptionellen Integrationsverantwortung droht, wenn Organe der Europäischen Union unbeschränkt, ohne eine – sei es auch nur sehr zurückgenommene und sich als exzeptionell verstehende – äußere Kontrolle darüber entscheiden können, wie das Vertragsrecht ausgelegt wird.“
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Das Bundesgesetz bedarf der Zustimmung des Bundesrates. Dabei wird nicht weiter nach seinem Inhalt differenziert, die Zustimmung ist vielmehr immer erforderlich. Somit stellt diese Regelung im Vergleich zu Art. 24 Abs. 1 GG (s. Rn 115) einen erheblichen Kompetenzzuwachs für die Länder dar.
Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang die Vorschrift des Art. 70 Abs. 4 Satz 2 der bayerischen Verfassung (BV): „Ist das Recht der Gesetzgebung durch die Übertragung von Hoheitsrechten auf die Europäische Union betroffen, kann die Staatsregierung in ihren verfassungsmäßigen Aufgaben durch Gesetz gebunden werden.“ Der BayVerfGH hat diese Vorschrift auf den Fall einer Hoheitsrechtsübertragung durch Gesetz gemäß Art. 23 Abs. 1 Satz 2 GG bezogen und begrenzt. Sie vermittelt dem bayerischen Landtag die Befugnis, der Staatsregierung per Landesgesetz Weisungen hinsichtlich ihres Abstimmungsverhaltens im Bundesrat über ein Gesetz iSv Art. 23 Abs. 1 Satz 2 GG zu erteilen (BayVerfGH, BayVBl. 2017, S. 407 ff, 409).
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Art. 23 Abs. 1 Satz 3 GG verweist für die Fälle, in denen es zu einer inhaltlichen Änderung oder Ergänzung des GG kommt oder in denen solche Änderungen oder Ergänzungen ermöglicht werden, auf Art. 79 Abs. 2 und Abs. 3 GG und damit zunächst über Art. 79 Abs. 2 GG auf die Notwendigkeit einer Zweidrittelmehrheit.
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Diese ist vorgesehen für die Begründung der EU (diese Variante ist mit dem Abschluss und Inkrafttreten von EUV, AEUV und GRC einstweilen abgeschlossen, die Vorschrift daher insoweit erschöpft) sowie für Änderungen ihrer vertraglichen Grundlagen (durch Änderungs- und Beitrittsverträge gemäß Art. 48 Abs. 2 bis Abs. 5 und Art. 49 EUV). Voraussetzung des Erfordernisses einer Zweidrittelmehrheit nach Art. 23 Abs. 1 Satz 3 GG ist freilich, dass diese Akte verfassungsändernde Qualität haben. Das ist jedenfalls