Liegt das daran, dass es dazu eines Strafrechts bedarf, das gänzlich neuen Regeln folgt und zentrale Begriffe bisheriger Strafrechtsdogmatik samt den sie umrankenden Diskussionen über Bord wirft? Das ist Alwarts Idee vom längst fälligen Übergang vom Rechtsgut zur Handlungsregel wohl implizit. Auch für die vorliegende Arbeit war das eine grundlegende Frage. Sie konnte aber, soviel darf vorweggenommen werden, verneint werden.
Im Verlauf der Studie hat sich die überkommene Straftatlehre an verschiedenen Stellen zwar als korrekturbedürftig, aber doch als voraussetzungsvoll genug erwiesen, um auch wirtschaftsstrafrechtlichem Handeln hinreichend klare Konturen vorzugeben. Der Kern der angesprochenen Defizite wurde nicht in einer Insuffizienz der überkommenen Straftatlehre ausgemacht. Es mangelt vielmehr in weiten Strecken an einer hinreichend präzisen Wahrnehmung des Regelungsgegenstandes Wirtschaft und seiner theoretischen Fundierung. Daraus folgen normativ nicht zu erklärende Abweichungen von den Verantwortlichkeits- und Zurechnungsstrukturen, die im Kernstrafrecht unter hohem Aufwand entwickelt wurden und zwischenzeitlich allgemein anerkannt sind. Auch diese Erkenntnis ist freilich nicht neu. Sie bestätigt allerdings eine zentrale These zum Zustand der Geisteswissenschaften im Alterswerk F. A. von Hayeks: „Nirgends ist die schädliche Wirkung der Teilung in Spezialfächer deutlicher als in den beiden ältesten dieser Disziplinen, der Ökonomie und dem Recht“[4].
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Ziel dieser Untersuchung ist es, dieser Trennung für den Bereich des Wirtschaftsstrafrechts ein Stück weit entgegen zu wirken. Dies soll dadurch geschehen, dass ein theoretisches Modell für die seitens des Staates mit seinem Gewaltmonopol zu etablierende strafrechtliche Rahmenordnung für die sozialen Interaktionen bei wirtschaftlichem Handeln entwickelt wird. Bei der Konkretisierung dieses Modells soll exemplarisch und stärker im Format leicht zugänglicher Besprechungsaufsätze auf einige derzeit drängende Fragen des Wirtschaftsstrafrechts eingegangen werden. Auf diese Weise kann der Ansatz für verschiedene Referenzbereiche konkretisiert werden. Der Leser kann auf diese einzelnen Erörterungen im zweiten Teil der Studie – etwa zu den Themen des Sponsorings, einer Untreue durch die Verletzung von Buchführungspflichten oder Fragen des Wettbewerbs oder Produktstrafrechts – freilich auch direkt zugreifen. Selbst mit dieser Beschränkung können die Ausführungen an verschiedenen Stellen freilich nur thesenartig in die Richtung weisen, in die das Wirtschaftsstrafrecht nach diesem Ansatz weiter auszuformulieren wäre. Manches hiervon wird in der Zukunft nachzuholen sein.
Teil 1 Grundlagen zur Theorie des Wirtschaftsstrafrechts › B. Der Begriff des Wirtschaftsstrafrechts und der individualistische Ausgangspunkt für ein sachangemessenes Verständnis des Wirtschaftsstrafrechts
B. Der Begriff des Wirtschaftsstrafrechts und der individualistische Ausgangspunkt für ein sachangemessenes Verständnis des Wirtschaftsstrafrechts
Teil 1 Grundlagen zur Theorie des Wirtschaftsstrafrechts › B › I. Der Begriff „Wirtschaftsstrafrecht“
I. Der Begriff „Wirtschaftsstrafrecht“
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Mit dem Begriff „Wirtschaftsstrafrecht“ ist bis heute kein ganz exaktes Vorstellungsbild verbunden. Der Mannesmann-Prozess[5], der Börsencrash im Jahr 2000 und Strafverfahren gegen „Stars“ des Neuen Marktes wie z. B. den Chef der Kinowelt AG Kölmel[6], die milliardenschwere betrügerische Insolvenz der Flowtex[7] oder die Verfahren um vom VW-Konzern gesponserte Lustreisen von Managern und Gewerkschaftsbossen haben zwar das Interesse der Öffentlichkeit für dieses Rechtsgebiet geweckt, aber zu keiner Klärung des Begriffs geführt. Laienhaft herrscht die Vorstellung, das Wirtschaftsstrafrecht sei das Strafrecht massenmedialer Schauprozesse mit höchst verwickelten Sachverhalten und großen rechtlichen Unsicherheiten, die in wechselseitigen Vorwürfen von Verteidigung und Staatsanwaltschaft enden. Rechtswissenschaftlich hängt die Vorstellung vom Wirtschaftsstrafrecht grundlegend davon ab, ob der Begriff Wirtschaftsstrafrecht ein vorwiegend kriminologisches Forschungsfeld bezeichnen, ob er den Anknüpfungspunkt für strafprozessuale Regelungen bilden, oder ob er die Grundlage für eine materielle Straftatsystematik legen soll[8]. Aus soziologischer und kriminologischer Sicht betrifft der Begriff Straftaten, die in dem erwerbswirtschaftlichen Arbeitsumfeld des Täters (corporate crime) begangen werden, die Kriminalität der Mächtigen (white collar crime) oder – entsprechend der Beschreibung der Wirtschaftsstraftat in § 30 Abs. 4 Nr. 5b AO – Straftaten, die nach ihrer Begehungsweise oder wegen des Umfangs des durch sie verursachten Schadens geeignet sind, die wirtschaftliche Ordnung erheblich zu stören oder das Vertrauen der Allgemeinheit auf die Redlichkeit des geschäftlichen Verkehrs bzw. auf die ordnungsgemäße Arbeit der Behörden und der öffentlichen Einrichtungen erheblich zu erschüttern[9]. Strafprozessual steht der Begriff für die in § 74c GVG näher ausgeführte Zuständigkeit der Wirtschaftsstrafkammer für die Aburteilung von Vermögensstraftaten und Delikten des Nebenstrafrechts, soweit zur Beurteilung des Falles besondere Kenntnisse des Wirtschaftslebens notwendig sind. Dem Untersuchungsgegenstand dieser Arbeit entsprechend konzentriert sich der nachfolgende Aufriss der bislang erarbeiteten Begriffsverständnisse auf die Versuche, das Wirtschaftsstrafrecht materiell und am tatbestandsmäßigen Verhalten orientiert zu beschreiben.
a) Der frühe am Schutz der Volkswirtschaft ausgerichtete Systematisierungsversuch von Lindemann
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Einer der frühesten Ansätze zu einer systematischen Gliederung des Wirtschaftsstrafrechts im deutschen Recht stammt aus dem Jahr 1932 von Lindemann[10]: An der Spitze des Wirtschaftsstrafrechts stehen dort in einem ersten Abschnitt Delikte gegen den Geld- und Wertpapierverkehr[11]. Dem schließen sich Delikte gegen das Handelsgesellschafts- und Kartellrecht an, wobei besonders das Kartellrecht im Gegensatz zum heutigen Recht durch die Schaffung bereichsspezifischer Monopole geprägt war[12]. Es folgt der Abschnitt über die Gefährdung des öffentlichen Kredits, die Industriespionage und die Gefährdung der Rohstoff- und Lebensmittelversorgung, bevor die Zusammenstellung mit dem Abschnitt über den Schutz der Arbeitskraft endet.
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Die Detailausführungen von Lindemann stehen in engem Zusammenhang mit der wirtschaftlichen Sondersituation Deutschlands am Ende der Weimarer Republik. Die Idee, einzelne Kartelle zu bilden, um Überproduktionen zu verhindern, scheint heute wirtschaftspolitisch überholt[13]. Die Versorgung der Bevölkerung mit Lebensmitteln und der Wirtschaft mit Rohstoffen wird ebenfalls nicht mehr als Problem gesehen, das zu einem nennenswerten Einsatz des Strafrechts drängt. Delikte gegen den Geldverkehr und die Münzdelikte würden eher als Phänomene der organisierten Kriminalität eingeordnet und weniger als Wirtschaftsstraftaten.
Die genannten Beispiele sind typisch für ein Strafrecht, das den Schutz der (nationalen) Volkswirtschaft in den Vordergrund stellt und das Strafrecht als ultima ratio der Wirtschaftslenkung betrachtet. Geradezu folgerichtig ist es, dass Lindemann Delikte, die dem Schutz des Einzelnen und der Sicherung der Individualwirtschaft dienen, aus dem Wirtschaftsstrafrecht ausschließt[14]. Das Wirtschaftsstrafrecht kann seiner Ansicht nach „nur dann etwas neuartiges und bedeutungsvolles darstellen, wenn wir den Begriff der Wirtschaft im Sinne von Volkswirtschaft oder Gesamtwirtschaft auffassen“[15].
b) Die „Straftaten gegen die Wirtschaft“ im Alternativ-Entwurf zum Wirtschaftsstrafrecht 1977
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Wie das Wirtschaftsstrafrecht in unserer marktwirtschaftlich geprägten