Auf der Bühne mit Roman Grinberg (links)
Eigentlich bin ich ein ungeduldiger Mensch. Vor allem, wenn es darum geht, die Vorträge anderer anzuhören, finde ich immer eine Entschuldigung. So habe ich schon einige Male Leuten, die mich zu ihren Vorträgen eingeladen haben, mit folgenden Worten abgesagt: „Ich bin ungeduldig, ich gehe in letzter Zeit nur zu Vorträgen, die ich selber halte – und auch da nicht immer.“ In Wirklichkeit will ich selbst auf der Bühne nicht nur Oberrabbiner, sondern immer auch Erzähler und Sänger sein. Ich bin ein großer Fan von Otto Schenk, Helmut Qualtinger, Karl Farkas, Ernst Waldbrunn usw. und versuche, ihnen nachzueifern.
MEINE ERSTEN AUFTRITTE auf dem Feld der Musik fanden zu Hause am Schabbat-Tisch statt. Sowohl mein Vater als auch meine Mutter hatten eine schöne Stimme, meine Schwester und ich auch, so klang das sehr gut, und wenn dann Gäste kamen, waren sie meist sehr angetan von unserem kleinen Familienchor.
Mein Vater hatte alte Schellacks, die sehr zerbrechlich waren, von Kantoren aus Osteuropa, viele davon noch vor dem Zweiten Weltkrieg aufgenommen. Die kantorale Art zu singen ist dem Operngesang ähnlich. Und weil ich diese Platten oft hörte und sehr musikalisch war, konnte ich schon mit zehn Jahren einige davon nachsingen. Kinder, die das können, nennt man oft „kantorale Wunderkinder“. Es gab solche, die viel besser waren als ich und sogar als Kinder schon Schallplatten aufgenommen haben. Interessanterweise ist aber dann nur die Hälfte von ihnen als Erwachsene zu Kantoren geworden. Meist waren diejenigen, die später keine Kantoren wurden, jene, die man gezwungen hatte, während des Stimmbruchs Konzerte zu geben. Da kann man sich nämlich leicht „ausschreien“, was die Stimme kaputt macht.
Nachdem ich damals, in diesem zarten Alter, noch keine Konzerte jenseits unseres Esszimmers gegeben hatte, habe ich dann auch im Stimmwechsel auf Ratschlag meines Vaters wenig gesungen oder zumindest meine Stimme nicht angestrengt. Ich bin zwar nie ein berühmter Kantor geworden, kann aber bis heute schön und richtig singen – das sagen zumindest die anderen.
Während der Woche hörte mein Vater gerne die alten Schellacks, und wenn Gäste kamen, spielte er sie ihnen vor. Ein armer chassidischer Rabbi in Wien besuchte einmal im Monat meinen Vater. Nachdem ihm mein Vater dann regelmäßig eine Zuwendung gab, hörte er auch gerne die Schallplatten an. Insbesondere die Platten von Jossele Rosenblatt. Diesen schätzte der Rabbi nämlich als „ehrlichen Jid“, weil er nicht nur schön sang, sondern auch tiefreligiös war. Was man von vielen anderen Kantoren nicht sagen konnte.
Ich erinnere mich, dass mein Vater einmal unter großen Schwierigkeiten eine nagelneue Platte des Kantors Zevulun Kwartin aufgetrieben hatte, von der er sehr begeistert war und die er diesem Rabbi gerne vorspielen wollte. Allerdings war Kwartin nicht für einen orthodoxen Lebenswandel bekannt. Als der Freund meines Vaters das nächste Mal zu Besuch kam, spielte er ihm die Aufnahme einfach vor, ohne ihn darüber zu informieren, wer der Sänger war. Der Rabbiner hörte mit geschlossenen Augen tief bewegt zu und sagte dann: „Seht ihr, lieber Kollege, so kann nur ein frommer Kantor singen!“
Manche Rabbiner sagen über mich, ich sei der beste Kantor unter den Rabbinern, weil sie mir nicht zubilligen, dass ich auch ein guter Rabbiner bin. Und manche Kantoren sagen über mich, dass ich der beste Rabbiner unter den Kantoren sei, weil als Kantor nicht gar so gut. Ich weiß natürlich, dass ich beides genial verbinde.
DA ICH ABER NICHT NUR SELBST auf der Bühne stehen kann und will, sondern mich, wie gesagt, auch als Zuhörer für gute Musik begeistere, war es mir ein Anliegen, hervorragende Kantoren nach Wien zu bringen. So stellte ich, gemeinsam mit vielen Helfern, in den Neunzigerjahren eine Reihe von Kantorenkonzerten auf die Beine, die als Teil des Musikfestivals „musica sacra“ über die Bühne gingen, das wiederum ein Teil des weltumspannenden Musiknetzwerkes „Jeunesses Musicales“ ist und von der Stadt Wien bis heute gesponsert wird.
Auftritt bei einem jüdischen Konzertabend
Nach dem Fall des Eisernen Vorhangs entstand eine Organisation, die jüdische Topkantoren aus Europa, Israel und Amerika auf eine Reise durch Polen, Ungarn und die Sowjetunion schickte, weil viele Kantoren vor dem Zweiten Weltkrieg von dort aus in den Westen gekommen waren. Das sollte sozusagen ein Ansporn für die osteuropäischen Juden sein, sich wieder mit jüdischen Werten und jüdischer Musik zu beschäftigen. Obwohl Wien bekanntlich nicht hinter dem Eisernen Vorhang lag, als dieser noch zugezogen war, wollte diese Organisation auch hier ein solches Konzert veranstalten – aber die jüdische Gemeinde hatte kein Geld dafür.
Damals ging ich zum Verein „musica sacra“ und fragte sie, ob sie nicht auch ein jüdisches sakrales Konzert finanzieren könnten. Ich wurde ein wenig komisch angeschaut und gefragt: „Was ist ein jüdisches sakrales Konzert? Wir unterstützen nur Konzerte, die ein hohes musikalisches Level haben“, sagten die Herrschaften noch dazu, was der beste Beweis dafür war, dass sie wirklich keine Ahnung von kantoralem Gesang hatten.
Ich packte eine Schallplatte von einem Kantor aus, der Teil der beschriebenen Osteuropa-Tournee war, und spielte sie vor: Da ist den Herren von „musica sacra“, wie man so sagt, der Mund offen geblieben, und sie waren sofort bereit, jährlich ein Kantorenkonzert zu sponsern.
Es wird übrigens erzählt, dass sogar der große Enrico Caruso am Versöhnungstag in Synagogen gegangen sei, um dort die Kantoren zu hören. Caruso war natürlich ein besserer Sänger als sie, aber die Kantoren haben zu Jom Kippur vier Stunden und mehr durchgehend gesungen, und der berühmte Opernsänger wollte sich abschauen, wie sie diese ungeheure Ausdauer erreichten.
In Amerika gab es an der Metropolitan Opera in New York zwei Schwager, einer hieß Richard Tucker und der andere Jean Pierce, die sowohl Toptenöre als auch jüdische Kantoren waren. Die beiden traten nur ein- oder zweimal im Jahr als Kantoren auf, nahmen aber nie eine Rolle an der Met an, wenn sie für diesen Zeitpunkt schon als Kantoren engagiert waren.
Als Rabbiner muss man nicht unbedingt ein guter Kantor sein. Aber manche Rabbiner, darunter auch ich, behaupten von sich, dass sie Kantoren wenigstens gut beurteilen können. In den Neunzigerjahren wurden die sogenannten „Wunderkind-Kantoren“ bekannt, die ich schon kurz erwähnt habe. Wir haben zu unseren Konzerten im Stadttempel öfters zwei Kantoren eingeladen. Kantor Barzilai, der Oberkantor von Wien, hat natürlich auch gesungen. Ich habe die Moderation gemacht und hin und wieder vielleicht auch ein „Stickele“ gesungen.
Einmal hörte ich eine Aufnahme von einem Wunderkind-Kantor aus Israel, und ich dachte mir, dass es doch nett wäre, einen Erwachsenen und einen Buben zu engagieren, die auch öfters im Duett singen. Ich habe also diesen jungen Star für unsere Konzertreihe engagiert. Zu meiner Überraschung war er im Stimmbruch, wovon ich vorher natürlich nichts wissen konnte, und hat kaum einen Ton herausgebracht! Hätte ich die Geduld dazu gehabt, hätte ich sein Management klagen können, ja müssen. Wie es bei Wunderkindern leider manchmal passiert, hatte ihn sein Manager aus Geldgier weitersingen lassen und seine Stimme kaputt gemacht. Als Erwachsener konnte er dann nie wieder Kantor sein.
IN DEN LETZTEN JAHREN habe ich bei meinen Konzerten, zumeist mit Roman Grinberg, ein Liederprogramm zusammengestellt. In jüngster Zeit habe ich allerdings eine neue Liste von Liedern angelegt, und zwar von solchen, die ich nicht mehr singen kann. Es sind langsame jüdische Lieder, die sehr zu Herzen gehen und bei denen ich immer in der Mitte des Liedes zu weinen beginne, sosehr ich mir auch vornehme, dass es diesmal nicht passiert. Dazu gehört „A jiddische Mame“.
Der Text von „A jiddische Mame“ geht so: