Hat China schon gewonnen?. Kishore Mahbubani. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Kishore Mahbubani
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Изобразительное искусство, фотография
Год издания: 0
isbn: 9783864707742
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seinem Büro im Institute of Advanced Study getroffen und ich glaube, er wäre auch dafür, direkt die schwierigsten Themen anzugehen, die vor einem liegen.

       Die großen Zehn

      1.Am Ende des Zweiten Weltkriegs belief sich Amerikas Anteil am globalen Bruttoinlandsprodukt (BIP) auf nahezu 50 Prozent, der Anteil an der Weltbevölkerung auf vier Prozent. Während des Kalten Kriegs kam das BIP der Sowjetunion nicht einmal ansatzweise an dasjenige Amerikas heran und erreichte zu seinen besten Zeiten gerade einmal 40 Prozent des amerikanischen BIP.5 Besteht die Möglichkeit, dass Amerikas BIP innerhalb der nächsten 30 Jahre kleiner als das chinesische wird? Falls ja, welche strategischen Änderungen müsste Amerika vornehmen, wenn es nicht mehr die größte Wirtschaftsmacht der Welt ist?

      2.Worin sollte Amerikas Hauptziel bestehen? Darin, das Leben seiner 330 Millionen Bewohner zu verbessern, oder darin, seine Vormachtstellung innerhalb des internationalen Systems zu bewahren? Wenn diese Ziele im Konflikt zueinander stehen, welches Ziel sollte dann Priorität haben?

      3.Die enormen Rüstungsausgaben, die Amerika während des Kalten Kriegs vornahm, erwiesen sich als umsichtige Entscheidung, denn auf diese Weise wurde die Sowjetunion mit ihrer schwächeren Volkswirtschaft gezwungen, bei Amerikas militärischen Ausgaben mitzuhalten. Das trug letztlich dazu bei, die Sowjetunion in den Bankrott zu treiben. China hat aus dem Zusammenbruch der Sowjetunion seine Lehren gezogen. Das Land deckelt seine Rüstungsausgaben und legt den Schwerpunkt auf seine wirtschaftliche Entwicklung. Ist es klug, dass Amerika weiterhin einen derart großen Verteidigungshaushalt unterhält? Oder sollte das Land seine Rüstungsausgaben und seine Beteiligung an kostspieligen Kriegen im Ausland zurückfahren und stattdessen mehr Geld in den Ausbau sozialer Leistungen und eine Modernisierung der nationalen Infrastruktur stecken? Was will China? Dass Amerika mehr Geld für sein Militär ausgibt oder weniger?

      4.Den Kalten Krieg hat Amerika nicht im Alleingang gewonnen. Vielmehr schmiedete das Land mit seinen westlichen Partnern ein festes Bündnis in Form der NATO und kultivierte in der Dritten Welt zentrale Freunde und Verbündete wie China, Pakistan, Indonesien und Ägypten. Amerika ließ seine Wirtschaft offen für seine Verbündeten und verteilte großzügig Hilfen. Vor allem war Amerika während des Kalten Kriegs für seine Großzügigkeit bekannt. Die Regierung Trump hat eine Politik des „America First“ verkündet und wichtigen Verbündeten wie der EU und Japan sowie Freunden aus der Dritten Welt wie Indien Strafzölle angedroht. Kann Amerika eine starke globale Allianz als Gegengewicht zu China aufbauen, während es gleichzeitig seine wichtigsten Verbündeten vor den Kopf stößt? War Amerikas Entscheidung, sich nicht am Freihandelsabkommen Trans-Pacific Partnership (TPP) zu beteiligen, ein geopolitisches Geschenk an China? Hat China bereits einen Präventivschlag gegen eine Containment-Politik geführt, indem es im Rahmen der „Belt & Road“-Initiative (BRI) neue wirtschaftliche Partnerschaften mit seinen Nachbarn einging?

      5.Welches ist die wirksamste Waffe, die Amerika einsetzen kann, um seine Verbündeten und seine Widersacher auf Linie zu bringen und seine Wünsche durchzusetzen? Nicht das US-Militär, sondern der US-Dollar. Der US-Dollar ist aus dem globalen Handel und weltumspannenden finanziellen Transaktionen praktisch nicht mehr wegzudenken und fungiert als eine Art globales Gemeinschaftsgut für die Weltwirtschaft. Für ausländische Banken und Einrichtungen ist es unumgänglich, den Dollar zu verwenden, was es Amerika ermöglicht hat, auch außerhalb seines Territoriums nationales Recht durchzusetzen und amerikanische Banken mit hohen Geldstrafen zu belegen, wenn sie Geschäfte etwa mit dem Iran oder anderen Nationen machen, gegen die die USA Sanktionen verhängt haben. Amerikanische Widersacher wie Nordkorea und der Iran wurden mithilfe lähmender Finanzsanktionen an den Verhandlungstisch gezwungen. Am besten funktionierte die Sanktionierung dieser Länder, wenn Amerika dabei von multilateralen Institutionen wie dem Sicherheitsrat der Vereinten Nationen unterstützt wurde, dessen Entscheidungen bindend für die UNO-Mitgliedsstaaten sind. Unter der Regierung Trump ist Amerika von multilateralen auf unilaterale Sanktionen umgestiegen und hat den Dollar in eine Waffe verwandelt, die gegen Amerikas Widersacher eingesetzt wird. Ist es klug, ein globales Gemeinschaftsgut in eine Waffe zu verwandeln und für unilaterale Zwecke einzusetzen? Aktuell gibt es keine praktischen Alternativen zum US-Dollar, aber wird das stets so sein? Handelt es sich hier um die Achillesferse der amerikanischen Wirtschaft, um eine Schwachstelle, die China angreifen und schwächen kann?

      6.Als er eine Strategie gegen die Sowjetunion entwickelte, betonte Kennan, wie wichtig es sei, dass die Amerikaner unter den Völkern der Welt allgemein den Eindruck eines Lands erwecken, das innenpolitisch erfolgreich sei und „spirituelle Vitalität“ genieße.6 „Amerikas Soft Power“ nannte das Professor Joseph Nye. Von den 1960er- bis zu den 1980er-Jahren boomte amerikanische Soft Power. Seit 9/11 hat Amerika gegen Völkerrecht und internationale Menschenrechtskonventionen verstoßen (und führte als erstes westliches Land die Folter wieder ein). Die Soft Power Amerikas hat – insbesondere unter Trump – beträchtlich nachgelassen. Sind die Amerikaner bereit, die Opfer zu bringen, die es braucht, um Amerikas Soft Power erneut zu stärken? Kann Amerika die ideologische Auseinandersetzung mit China gewinnen, wenn es als „normale“ Nation und nicht als Land mit einer „Sonderstellung“ angesehen wird?

      7.General H. R. McMaster, 2017 bis 2018 nationaler Sicherheitsberater von Präsident Trump, sagte, die Auseinandersetzung zwischen Amerika und China stelle letzten Endes die Auseinandersetzung zwischen „freien und offenen Gesellschaften und geschlossenen autoritären Systemen“ dar.7 Trifft diese Einschätzung zu, dann sollten sich alle freien und offenen Gesellschaften von der Kommunistischen Partei Chinas (KPCh) gleichermaßen bedroht fühlen. Zwei der drei größten Demokratien der Welt finden sich in Asien – Indien und Indonesien. Weder die indische noch die indonesische Demokratie fühlen sich von Chinas Ideologie bedroht, genauso wenig die meisten europäischen Demokratien. Im Gegensatz zur Sowjetunion versucht China nicht, Amerikas Ideologie infrage zu stellen oder zu bedrohen. Indem es die neue Bedrohung durch China mit der alten Strategie der Sowjets gleichsetzt, begeht Amerika einen klassischen strategischen Irrtum und führt den Krieg von morgen mit den Strategien von gestern. Gelingt es Amerikas Strategen, neue analytische Grundgerüste zu entwickeln, die das Wesen des Wettbewerbs mit China abbilden?

      8.Bei jedem größeren geopolitischen Wettbewerb ist die Partei im Vorteil, die rational bleibt und kühlen Kopf bewahrt, während die Partei, die sich, bewusst oder unbewusst, von Emotionen treiben lässt, Nachteile hat. Kennan merkte klug an, „Wutausbrüche und ein Verlust der Selbstkontrolle“ seien ein Zeichen der Schwäche. Aber sind Amerikas Reaktionen auf China von Vernunft getrieben? Oder doch von unterbewussten Gefühlen? In der westlichen Psyche hat sich vor langer Zeit eine tief sitzende und unterschwellige Furcht vor der „gelben Gefahr“ eingenistet? Beim Wettbewerb mit China handele es sich um eine Auseinandersetzung mit einer „nicht-kaukasischen“ Macht, sagt Kiron Skinner und legt damit den Finger auf den Auslöser der emotionalen Reaktionen auf China. Kann ein strategischer Denker im von Political Correctness dominierten Klima Washingtons auf einen so politisch unkorrekten, aber zutreffenden Aspekt hinweisen, ohne dafür politisch aufgespießt zu werden?

      9.Sun Tzu, einer von Chinas größten strategischen Denkern, sagt: „Wenn du den Feind und dich selbst kennst, brauchst du sogar hundert Schlachten nicht zu fürchten. Wenn du dich selbst kennst, den Feind aber nicht, wirst du für jeden errungenen Sieg eine Niederlage erleiden. Kennst du weder den Feind noch dich selbst, wirst du in jeder Schlacht unterliegen.“8 Kennt Amerika seinen chinesischen Rivalen? Begeht Amerika beispielsweise einen grundlegenden Wahrnehmungsfehler, wenn es die KPCh als eine chinesische kommunistische Partei ansieht? Das würde nämlich bedeuten, die Seele der KPCh ist in ihren kommunistischen Wurzeln vergraben. Für viele objektive asiatische Betrachter dagegen fungiert die KPCh in Wahrheit viel eher als „chinesische Kulturpartei“. Ihre Wurzeln liegen nicht in der ausländischen Ideologie des Marxismus-Leninismus, sondern in der chinesischen Kultur. Die wichtigste Aufgabe eines Strategen besteht darin, möglichst exakt so wie der Widersacher zu denken. Hier also eine Testaufgabe: Zu wie viel Prozent beschäftigt sich der Geist eines chinesischen Führers mit marxistisch-leninistischer Ideologie und zu wie viel Prozent mit der reichen Kulturgeschichte Chinas? Die Antwort würde viele Amerikaner vermutlich verblüffen.

      10.In „On