Ein unsichtbares Band, genannt Familie. Heli Ihlefeld. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Heli Ihlefeld
Издательство: Автор
Серия:
Жанр произведения: Контркультура
Год издания: 0
isbn: 9783962297985
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als wir. Ich höre ihnen zu. So hat mir mein Großvater auch seinen Lebenslauf übergeben. Eines Tages hielt ich ihn in meinen Händen.

      Er erzählte mir darin von einer schlichten und herrlichen Kindheit. Von einer Kindheit, die ich durch den Zweiten Weltkrieg verloren hatte.

      Der Krieg war zu Ende und ich ging in Hannover aufs Gymnasium. Wenn ich mittags nach Hause kam, saß Opa an seinem kleinen sechseckigen Marmortisch und legte Patiencen.

      Ich erinnere mich an sein lachendes rundes Gesicht mit den klaren hellblauen Augen unter buschigen Augenbrauen. Die Ohrmuscheln standen ab von seinem kahlen Schädel.

      Mein Großvater!

      Wenn ich kam, blickte er von seiner Patience auf und freute sich. „Wie war’s in der Schule?“

      Er legte erwartungsvoll seine rechte Hand ans Ohr und schob die Ohrmuschel etwas nach vorne, denn er war schwerhörig. – Übrigens ein Familienerbe.

      Aber ich hatte keine Lust, ihm von der Schule zu erzählen. Ich ging nicht gerne zur Schule. Opa aber dachte als über 80-jähriger Mann nach einem langen arbeitsreichen, anstrengenden und auch schmerzensreichen Leben fast nur noch an seine Kindheit.

      Ich lese in den 44 handgeschriebenen Seiten seines Lebenslaufes:

      „Ich bin jetzt über 80 Jahre und gesundheitlich so in Form, dass ich spazieren gehen kann, gerne noch Zigarren rauche und abends noch ein Schöppchen Wein trinke.“

      Schöppchen ist gut, denke ich. Immer stand eine Flasche halbtrockener Rheingauer Riesling abends vor ihm auf dem Tisch, die am Ende des Abends meistens leer war.

      „Aber mein Gehör hat nachgelassen“, lese ich weiter die klare harmonische Handschrift, „und der Hörapparat kann nur wenig nutzen, sodass ich mich in meinem Corps [das waren die Macaro Visurgen in Hannover, bei denen ich als junges Mädchen auch getanzt hatte] oder im Theater und Kino nicht mehr sehen lassen kann. Mein Gedächtnis hat auch sehr nachgelassen, und so lebe ich meistens allein in meinen Lebenserinnerungen ...“

      Heute, wo ich selbst am Ende meines Lebens angekommen bin, betrachte ich Großvaters Kindheit und sein Leben. Alles ist mir sehr nahe. Ich kann auch mit ihm darüber sprechen. Ich spüre auch in mir seine Heiterkeit nach einem langen Leben, in dem auch so viel Trauriges geschehen ist. In mir entsteht dadurch eine große Offenheit. Ich sehe so viele Veränderungen auf die Menschen zukommen. Ich erlebe noch ein ganz neues Zeitalter.

      Und jetzt spüre ich ihn nahe bei mir. „Was ist mit den Menschen los? Was kommt auf sie zu?“, frage ich ihn.

      „Mein Kind, komm setz’ dich zu mir!“ Ich schmiege mich an ihn, als er spricht.

      „Alles fiel mir zu. Alles schien damals einfach. Alles war gut. Schau, was daraus geworden ist!“

      „Was kann ich tun?“

      „Hinschauen. Ganz bewusst. Aber das geht nicht ohne Liebe – vor allem Liebe zu dir selbst. Ich habe nur gelernt. Immer. Von meinen Eltern, wie man ein anständiger Mensch wird. Danach von meinen Lehrern. Ich habe gedacht, das genügt: Ein anständiger Mensch zu sein und seine Pflicht zu tun.

      Um Politik habe ich mich nie gekümmert.“

      „Ich auch, Opa, nicht nach dem Krieg. Ich bin aufs Gymnasium gegangen – ungern im Gegensatz zu dir, Opa. In die Grundschule konnte ich, bis auf wenige Tage, wegen der Tiefflieger auf meinem Schulweg kaum gehen.

      Vielleicht war es auch die Angst vor diesen plötzlichen Überfällen der ‚Ratas‘, wie sie Onkel Hans nannte, die Bilder meiner Kindheit aus meinem Gedächtnis getilgt hat. Ich habe Trotzköpfchen gelesen und mir keine Gedanken gemacht, was mein Vater im ‚Dritten Reich‘ getan hatte oder tun musste, ob er sich vielleicht schuldig gemacht hatte oder machen musste. In meinen Augen war mein Vater unschuldig.“

      „Das genügt eben nicht, mein Kind. Schau immer genau hin!“

      „Ja, das weiß ich inzwischen. Aber ich war so schutzlos damals, so hilflos. Was für ein langer Weg bis hierher! Halte mich fest, Opa!“

      „Das Leben ist wie ein tiefer Atemzug. So habe ich es empfunden.“

      „Was sagst du über den Kapitalismus?“

      „Wir haben ihn gesät. Ich habe zum Beispiel nicht die Arbeiterpartei gewählt, die ihn verhindern wollten, bis die Nazis unter falschen Vorzeichen dazwischenfunkten. Aber fangen wir vom Anfang an. Nach dem schrecklichen Krieg habe ich vieles eigenhändig aufgeschrieben, meine Erinnerungen, mit 81 Jahren, in Hannover in der Richard-Wagner-Straße 24a. Dort, wo wir alle zusammenwohnten, als du noch auf die Sophien Schule gingst.“

      DER BEGINN EINES (SCHEINBAR) GERADLINIGEN LEBENSWEGS

      „Mein Lebenslauf!“ steht oben auf der ersten Seite und dann heißt es:

      „Am 11. August 1875 wurde ich in Hannover-Linden geboren. Deisterstraße 38, als zweiter Sohn meiner Eltern Hermann und Margarete Rüter.“

      Knapp zwei Jahre vor ihm, am 3. November 1873, war sein Bruder Karl auf die Welt gekommen. Bald danach zog die kleine Familie in die Kirchwenderstraße, weil Vater Hermann als Schlosser bei dem Werk Garvens eingestellt worden war.

      „Ich war damals noch sehr klein, aber vergnügt, wie man mir später erzählt hat, sehr beliebt in der Gegend.“

      Ich muss lachen. So wie später mein jüngster Bruder, nach Opas Vater Hermann getauft und Menne genannt, im Krieg geboren, ein so sonniges Kind war! Alle, die ihn mit seinen blonden Locken und seinen strahlenden blauen Augen sahen, liebten ihn. Sogar die Bauersfrau auf dem Orbachshof in Württemberg – wohin wir während des Krieges evakuiert waren –, die sonst für uns Flüchtlinge nichts übrighatte, schenkte ihm, wenn sie ihn sah, eine Scheibe von ihrem selbst gebackenen Brot, mit Butter und Marmelade bestrichen. – Ach, ich hätte ja auch gerne so ein herrliches Brot geschenkt bekommen!

      „Mein Vater machte nun bald darauf seinen Schlossermeister mit großem Erfolg und wurde selbstständig. Und der Schmiedegeselle Ludwig Meyer machte damals auch seine Meisterprüfung. Und die beiden vereinten sich zu der neuen Schlosserei Meyer und Rüter.

      Damals waren die Werkstätten der Schlosser, Tischler und Maurermeister in der Altstadt im Bereich Oster-, Markt- und Köbelingerstraße. Und die Firma Meyer und Rüter mietete sich eine kleine Werkstatt in der Köbelingerstraße, wo wir dann auch unsere Wohnung nahmen“, erzählt Opa weiter.

      Für die Kinder des Schlossermeisters Hermann Rüter war diese Gegend herrlich zum Spielen – auf dem Friedrichsplatz oder in der Masch. Opa strahlt bei diesen Erinnerungen. Dann fährt er fort:

      „Mein Bruderkam 1880 in die Bürgerschule Iinder Köbelingerstraße und ich zwei Jahre später. Als mein Bruder seine Hausarbeiten in Lesen, Schreiben, Rechnen machte, interessierte mich das so sehr, dass ich mich dazusetzte und alles gleich mitlernte. Als ich dann in dieselbe Schule kam, und daran denke ich noch mit viel Freude, brachte mich mein Bruder in meine Klasse und verschwand dann in seine. Es war schon sehr spät, und alle Bänke waren besetzt. In den Seitenräumen standen die Eltern der anderen Schulanfänger. Und ich kleiner Bursche konnte nicht nach vorne durchkommen. Da stand der Klassenlehrer auf und rief, ob hinten noch ein Schüler sei. Ich rief laut: „Hier!“

      Nicht gerade freundlich forderte der Klassenlehrer nun die Eltern auf, den kleinen Otto durchzulassen. Er kam auf den letzten vorhandenen Platz, den „Pluck“. Danach machte der Lehrer den Eltern klar, dass er nun mit seinen Schülern allein sein wollte.

      „Dies hat mich sehr gefreut!“, erinnert sich Großvater.

      Ich beneide Opa. So genau konnte er sich mit 81 Jahren noch erinnern. Ich weiß nichts mehr über meinen ersten Schultag in Paris während des Krieges. Ich weiß nur noch, dass ich meinen ersten Klassenlehrer, Herrn Götte, sehr geliebt habe. Meine Mutter zeigte mir ein Foto, auf dem ich meine runden Ärmchen um ihn geschlungen hatte. – Er ist als einer der Ersten im Krieg gefallen.

      Die Klassenplätze in Opas Schule waren nummeriert.