Herr Maiwald, der Armin und wir. Kai von Westerman. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Kai von Westerman
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Изобразительное искусство, фотография
Год издания: 0
isbn: 9783741001574
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ich in die dritte Klasse. Damals wurde im Fernsehen an jedem Nachmittag Programm für Kinder gesendet. Sonntags saßen wir manchmal den ganzen Tag vorm Fernseher. Nach dem Frühstück wurde eingeschaltet und von da ab durchgehend ferngesehen: DIE KLEINEN STROLCHE, FLIPPER … hauptsächlich amerikanische Fernsehserien. Abends, vor den Nachrichten kam BONANZA, anschließend Schulranzen packen, Abendbrot, ins Bett.

      Im Kinderfernsehen damals kam die Welt unserer Umgebung nur selten vor.

      Viele Kindersendungen wurden aus Fernsehstudios übertragen. Wir sahen einfache Shows vor Pappwänden, fürs Bild gebaut und aufgestellt. Es gab Lieder und Bastelanleitungen, Märchentanten, und Ratespiele mit Moderatoren in Anzug mit Krawatte.

      Oft spielten in diesen Sendungen Marionetten oder Handpuppen mit. Es schien, als könnten diese Puppen sich im Studio frei bewegen.

      Zum Beispiel kannten alle diesen frechen Hasen, der aussah, als hätte er ein altes, abgeliebtes Fell von verwaschener, graubrauner Farbe. Der Hase war eine Handpuppe mit Klappmaul, hatte riesige Ohren und ein ziemlich vorlautes Mundwerk mit zwei großen Schneidezähnen. Er hieß Cäsar. Zusammen mit dem Tontechniker Arno präsentierte der Hase aktuelle Schlagerplatten. Er sagte die Platten an, quatschte oft in die laufende Musik hinein und schwatzte mit dem Tontechniker: «Du, Arnooo …?»

      Ständig klopfte der Hase Cäsar Sprüche. Er war frech zu den Schlagersängern, die als Studiogäste auftraten, manchmal sogar unverschämt. Währenddessen zappelte er durchs Studio. Abwechselnd tauchte er vor und hinter dem Tonmischpult auf.

      Auch wenn man das nie sah, wussten wir, dass dieser Stoffhase genau wie beim Kasperletheater von einem Puppenspieler geführt wurde, der außerhalb des Bildes hockte. Und irgendwie ahnten wir, dass dieses Mischpult mit Tonbandmaschinen und Plattenspielern Teil einer Studiokulisse war.

      Die Sendung hieß SCHLAGER FÜR SCHLAPPOHREN. Alle guckten sie gerne.

      Aber im Grunde war dieses ganze Kinderfernsehen nichts anderes als Kasperletheater.

      Es waren die Jahre, in denen ich gebannt eine Mondlandung nach der anderen im Fernsehen verfolgte. Schließlich wurden die Spaziergänge der Astronauten auf der Mondoberfläche sogar in Farbe gesendet. Die Bildqualität war nicht schlechter als die der Liveübertragungen von der Fußball-weltmeisterschaft in Mexiko.

      Wir sahen im Fernsehen, wie Astronauten mit kirchturmhohen Raketen starteten. Wir erfuhren, dass sie die Erde mit der Geschwindigkeit einer Gewehrkugel verlassen mussten, um den Mond erreichen zu können.

      Zu eben dieser Zeit kam die Redaktion des Kinderprogramms beim Westdeutschen Rundfunk auf die Idee, ihre Studios zu verlassen und Filme zu drehen, die das echte Leben zeigen sollten. Ohne Kulissen, nicht nur mit Schauspielern, sondern vor allem mit Menschen, die auch in Wirklichkeit an Ort und Stelle lebten und arbeiteten. Man merkte den Unterschied sofort, weil diese Menschen oft nicht so deutlich sprachen, wie die Figuren in den Fernsehserien. Wenn sie redeten, klang das häufig ähnlich wie die Gespräche der Monteure, die gestern bei uns im Keller die Heizung geprüft hatten. Die Menschen in den Filmen ohne Kulissen waren fest in der westdeutschen Wirklichkeit verwurzelt. In unserer Wirklichkeit.

      Die Schule langweilte mich. Ich hatte größte Mühe, mich auf die Hausaufgaben zu konzentrieren. Manchmal gingen ganze Nachmittage dabei drauf. Meine Mutter versuchte mit verschiedenen Tricks, mich zu motivieren. Sie ließ mich meine Schulaufgaben im Wohnzimmer machen. Da hatte sie mich im Blick. Vielleicht hatte sie manchmal auch Mitleid.

      Jedenfalls baute sie eines Tages das Bügelbrett im Wohnzimmer auf und schaltete den neuen Fernseher ein. «Es gibt so eine Sendung mit einem Spatzen», sagte sie, « Mach’ jetzt mal eine Pause. Der Film dauert eine halbe Stunde. Danach arbeitest du weiter, ja?»

      Als Bügelhilfe schätzte meine Mutter das Fernsehen sehr bald – aber ob es als Hausaufgabenhilfe taugte?

      Der erste Film mit dem Spatzen begann mit einem Blick in sein Nest. Es schien vor allem aus Lumpen zu bestehen. Auch Drahtreste, Stahlfedern, bunte Kabel und Fetzen von Brötchentüten waren darin verbaut – Sachen, die einer im Abfall der Stadt finden konnte. Das Nest klemmte in einer Astgabel des Baumes auf einem Platz mitten in der Stadt. Darin lag der Spatz und schlief. Eine Marionette aus Wollknäueln, Draht und Pappe. Bei Marionetten waren wir anspruchsvoll – durch die AUGSBURGER PUPPENKISTE waren wir regelrecht verwöhnt. Der schlafende Spatz im Nest schien ruhig und langsam zu atmen. Das sah echt aus.

      Die Uhren der Geschäfte am Platz zeigten sechs Uhr morgens an. Der Tag war schon hell, das Licht aber grau und konturlos. Kirchenglocken begannen zu läuten, der Dom war in Sichtweite. Das Läuten weckte den Spatz. Der Lärm ärgerte ihn.

      Die Marionette reagierte auf die Wirklichkeit ihrer Umgebung.

      Weil jede Fernsehsendung von einer Ansagerin angekündigt wurde und durch minutenlange Schrifteinblendungen wie «Wir schalten um …», «Sendepause» oder «Störung», war uns klar: Fernsehen wird gemacht.

      Beim SPATZ VOM WALLRAFPLATZ haben die Fernsehmacher den gespielten Teil ihrer Erzählung mit der Wirklichkeit verbunden. Unten auf dem Platz fuhr ein Radfahrer vorbei. Sein Fahrrad quietschte.

      Genervt zeterte der Spatz: «Der soll sein Fahrrad ölen!»

      Wenn man sich das heute anguckt, entsteht der Eindruck: Die Filmemacher probierten aus, wie man glaubwürdige Berührungspunkte zwischen Inszenierung und Wirklichkeit schafft. Sie nutzten den städtischen Platz wie eine Bühne, begrenzt von Häusern. Das Spatzennest war ein Logenplatz, von dem aus man alles rundherum beobachten konnte. Der Spatz konnte seine Loge einfach verlassen, schnell zu jeder Stelle des Platzes flattern und sich in das Geschehen auf der Bühne mischen.

      Da lag am Straßenrand ein Haufen Abfall. Der Dreck sah aus, als hätten die Filmleute ihn da hingelegt: Inszenierung.

      Die Spatzenmarionette flatterte herbei, um zu schauen, ob sich im Abfall etwas essbares zum Frühstück fände.

      Dreck als Ausweis der Wirklichkeit. Und die Marionette mittendrin.

      Der Spatz pickte also am Fahrbahnrand im Dreck herum. Aus dem Hintergrund näherte sich die Stadtreinigung mit einem orangefarbenen Sprengwagen. Der spritzte die Straße nass. Im Vordergrund suchte der Spatz nach Krümeln. Der Sprengwagen kam näher. Im letzten Moment hüpfte der Spatz beiseite. Der Sprengwagen fuhr knapp an ihm vorbei, der Spatz wurde nass. In Großaufnahme. Die Marionette wurde tatsächlich geduscht, von einer echten Straßenreinigungsmaschine. Da berührte die Wirklichkeit die Inszenierung.

      In den ersten Folgen der Serie flatterte der Spatz ständig nahe am Hauptgebäude des Senders herum. Man konnte regelrecht zugucken, wie die Filmemacher sich vorsichtig immer weiter hinauswagten mit ihrer neuen Filmfigur.

      Der erste größere Ausflug des Spatzen endete allerdings wieder in einem Fernsehstudio. Die Studios des WDR waren über die ganze Kölner Innenstadt verteilt.

      Am Pförtner vorbei hüpfte der neugierige Spatz durch die offene Tür hinein. Im Studio: Stille. Alles dunkel. Nur das Putzlicht war eingeschaltet.

      Der Besuch in diesem Studio war wie ein Abschied vom bisherigen Kinderfernsehen. Der Spatz flog hoch bis unter die Studiodecke und setzte sich auf einen dunklen Scheinwerfer. Er guckte hinunter und bemerkte: «Kommt mir so bekannt vor … Na klar! Das ist doch das Mischpult vom Hasen Cäsar …»

      Die Dekoration stand verlassen. Niemand da.

      Kein Wunder: Der Regisseur der Sendung mit dem Hasen Cäsar war derselbe gewesen wie der bei den Filmen mit dem Spatz.

      Aber das wusste ich damals noch nicht.

      4

      WENN KINDER FERNSEHEN

      Auf dem Pausenhof der Grundschule schwatzten wir Schüler eher über Serien, die eigentlich für Erwachsene gemacht waren: DAKTARI, BONANZA und RAUMSCHIFF ENTERPRISE. Nachmittags, auf den Wiesen zwischen den Wohnhäusern unserer Siedlung, spielten die Nachbarskinder und wir die Abenteuer der Serienfiguren nach: Wir fantasierten uns in die afrikanische Wildnis, in staubige Westernstädte oder ins