[16]In den letzten Jahren haben sich zahlreiche Studien mit der Problematik des islamistischen Extremismus im Westen auseinandergesetzt und dessen Ursachen, Instrumente und ausschlaggebende Faktoren untersucht. Diese Studien drehen sich um die Analyse einer Reihe von miteinander verbundenen Faktoren, deren wichtigste folgende sind:
1.)Gesellschaftliche Verwerfungen: Viele der Studien konzentrierten sich auf das Scheitern der Integrationspolitik in einer Reihe von europäischen Ländern, die Isolation einiger muslimischer Jugendlicher von der Mehrheitsgesellschaft und die Zunahme von Gefühlen der politischen, sozialen und kulturellen Entfremdung. Die Fragen, die dabei bevorzugt untersucht werden, hängen mit der steigenden Wahrnehmung von sozialer Ausgrenzung, Diskriminierung und Ungerechtigkeit, mit Arbeitslosigkeit sowie mit der Zunahme sozialer und ökonomischer Ungleichheit zusammen, denn arme Familien sind oft nicht in der Lage, ihre Mitglieder gegen Zeiten der Krise und schnelle soziale, kulturelle und technologische Veränderungen zu wappnen. Das Tempo der Veränderungen beeinträchtigt das soziale Gleichgewicht und die Überlagerung verschiedener Werte und Konzepte gibt dem Extremismus Auftrieb (siehe z. B. Holtz, Dahinden und Wagner 2013 sowie al Raffie 2013).
2.)Familiäre Verwerfungen: Hier liegt der Fokus auf der Zerrüttung von Familien und auf Störungen des Verhältnisses von Individuen zu ihrer Familie, oder auch dem Entzug der Zuneigung von einem oder beiden Elternteilen in früher Kindheit (siehe z. B. Sikkens, van San, Sieckelinck und de Winter 2017).
3.)Seelische Störungen: Hier konzentriert man sich auf schwere seelische Traumata, besonders in der Kindheit, sowie auf die gestörte Beziehung zu Gleichaltrigen in der Schule oder dem sozialen Umfeld. Es sticht besonders die Untersuchung psychischer Erkrankungen wie dem Leiden an Depressionen oder Ängsten hervor, da Menschen manchmal vor diesen fliehen, indem sie den inneren psychischen Konflikt nach außen verlagern, sodass er sich nun zwischen ihnen und der Gesellschaft abspielt. Er kann in der Folge als weniger schmerzhaft empfunden und leichter akzeptiert werden, da die Person nun eine aktive Rolle darin einnimmt (siehe z. B. Csef 2017 und Leuzinger-Bohleber 2016).
4.)Kollektive Traumata: Einige der Studien konzentrierten sich auf die Untersuchung der Effekte der US-amerikanischen Besatzung Afghanistans und des Iraks sowie der Bürgerkriege, die sich nach den Revolutionen in vielen arabischen Staaten wie Syrien, Libyen oder dem Jemen ausbreiteten. Besondere Aufmerksamkeit kommt dabei dem [17]syrischen Bürgerkrieg zu, in welchem das Regime Baschar al-Assads brutale Gewalt anwendet, um Oppositionelle zu unterdrücken und sich eine Reihe regionaler Player wie der Iran und die libanesische Hizbullah4 eingemischt haben. Damit weitete sich der Konflikt, der zu Beginn noch lokaler Natur war, zu einer konfessionellen und regionalen Auseinandersetzung zwischen Sunniten und Schiiten aus.
5.)Social Media: In jüngster Zeit haben sich auch viele Studien mit der Rolle der Social Media wie Facebook, Twitter und WhatsApp bei der Verführung Jugendlicher zum Extremismus und als Mittel der Verbreitung dschihadistischer und extremistischer Propaganda auseinandergesetzt (siehe z. B. Becker 2009, Baehr 2012, Holtmann 2014, Inan 2017 und Difraoui 2012).
Diese fünf Faktoren waren während meiner intensiven Feldforschung in Bayern, die sich vom November 2015 bis zum November 2017 erstreckte, sehr präsent. So erklärte mir z. B. Ibrahim, der in der Prävention und Bekämpfung von Extremismus unter Jugendlichen in Bayern tätig ist, während eines Gesprächs im Januar 2017, dass der Extremismus seiner Überzeugung nach, zu der er durch seine persönliche Erfahrung in der Arbeit mit extremistischen Jugendlichen gelangte, in 99 Prozent der Fälle auf einen der drei folgenden Faktoren zurückzuführen ist: soziale Verwerfungen, seelische Störungen und zerrüttete Familien.
In vielen Interviews, besonders mit den Verantwortlichen von Moscheen und mit Aktivisten der muslimischen Gemeinden, wurde mir ebenfalls erklärt, dass der Extremismus ihrer Überzeugung nach hauptsächlich das Resultat von sozialen Problemen ist, die mit fehlender Integration und Diskriminierung gegenüber den Nachkommen der Einwanderer vonseiten der Mehrheitsgesellschaft zusammenhängen. So erläuterte mir z. B. Dschaafar, der seit mehr als 20 Jahren in einer arabischen Moschee aktiv ist, während eines Interviews im Dezember 2016, dass die Ursachen des Extremismus seiner Überzeugung nach vor allem mit der Diskriminierung zu tun haben, unter der die Nachkommen muslimischer Einwanderer sowohl in der Schule als auch auf dem Arbeitsmarkt leiden.
Yusuf, Imam einer großen, türkisch geprägten Moschee in Bayern, sieht die Diskriminierungen und Schwierigkeiten, die jungen Muslimen im Alltag in der Schule und in der Gesellschaft begegnen, ebenfalls als Hauptursache des Extremismus. Als Beleg führt er ein Gespräch mit [18]einem Jugendlichen an, der zu ihm kam und ankündigte: „Ich sprenge meinen Lehrer in die Luft!“ Der 15-Jährige machte damit seinem Ärger darüber Luft, dass seine Lehrer die Muslime rassistisch behandeln und den Islam schlechtmachen würden. In der Folge habe er sich intensiv mit dem Jungen und seinen Eltern auseinandergesetzt und ihn schließlich vor der Ausführung seiner Gewaltphantasien abbringen können. Bei den wenigen Jugendlichen, die in die Moschee gehen und einen solchen Hilfeschrei senden, handelt es sich seiner Meinung nach jedoch nur um die Spitze des Eisbergs. Es gebe weitaus mehr muslimische Jugendliche, die ein falsches und gefährliches Verständnis von ihrer Religion und deren Praxis in Deutschland hätten (zur Attraktivität des Salafismus für Jugendliche siehe Nordbruch, Müller und Ünlü 2014).
Alle Bemerkungen von Ibrahim, Dschaafar und dem Imam Yusuf resultieren aus ihrer praktischen Erfahrung und ihrem täglichen Umgang mit muslimischen Jugendlichen in Bildungsprogrammen und unterschiedlichen religiösen Aktivitäten. Diese Faktoren dürfen auf keinen Fall vernachlässigt werden. Dennoch sollten wir unseren Blick auch auf andere wichtige Faktoren richten, welche mit der Rolle der ideologische Salafisten beim narrativen Framing des Extremismus zusammenhängen, indem sie auf religiöse Texte selektiv zurückgreifen und diese in politische Matrizen verwandeln, welche die extremistische Ideologie beinhalten. Zu diesem Schluss kommt auch eine gemeinsame Auswertung durch das Bundesamt für Verfassungsschutz, das Bundeskriminalamt und das Hessische Informations- und Kompetenzzentrum gegen Extremismus aus dem Jahr 2014. Dabei handelt es sich um eine Analyse der den deutschen Sicherheitsbehörden vorliegenden Informationen über die Radikalisierungshintergründe und -verläufe der Personen, die aus islamistischer Motivation heraus aus Deutschland in Richtung Syrien ausgereist sind. Das Ergebnis der Studie besagt: Bei 323 Personen, die aus islamistischer Motivation aus Deutschland in Richtung Syrien ausgereist sind, ist die ideologische Ausrichtung bekannt. „Die ganz überwiegende Mehrheit dieser Personen (319) wird dem salafistischen Spektrum zugerechnet. Lediglich 4 Personen werden explizit nicht als Salafisten bezeichnet“ (S. 13).
1.3 Das salafistische Metanarrativ
Auf dieser Grundlage müssen das Studium und das Verständnis salafistischer Bewegungen und ihrer Ideologie als essenziell für das Verständnis und die Beseitigung des Phänomens des Extremismus aufgefasst werden. Dieses Buch fokussiert sich auf die Analyse der Narrative in salafis-[19]tischen Freitagspredigten in Deutschland, die zusammen ein salafistisches Metanarrativ bilden.5 Es will Antworten auf die folgenden Fragen geben: Welches sind die Narrative, die ideologische Salafisten unter den deutschen Muslimen zu verbreiten und zu verankern versuchen? Wie kontextualisieren (‚framen‘) ideologische Salafisten diese Narrative? Welche Ziele streben sie damit an? Was macht sie attraktiv? Gibt es eine Beziehung zwischen dem ideologischen salafistischen Metanarrativ und dem Prozess der Radikalisierung?
Für Halverson und seine Kollegen besteht ein Narrativ aus einer Reihe von Geschichten, die programmatisch miteinander verbunden sind und deren Themen ineinandergreifen. Das Verständnis unseres Selbst, wer wir sind, warum wir hier sind, was uns einzigartig macht und dergleichen Fragen mehr werden von einer Reihe von Geschichten geformt und zusammengehalten, die wir hören, während wir aufwachsen, und die uns miteinander verbinden (Halverson, Corman und Goodall 2011: 12). Folglich lässt sich ein Narrativ definieren als „coherent system of interrelated and sequentially organized stories that share a common rhetorical desire to resolve a conflict by establishing audience expectations according to the known trajectories of its literary and rhetorical form“ (Halverson, Corman und Goodall 2011: 14). Ein Narrativ ist eine imaginäre, zusammenhängende Welt, in der Bilder des Selbst aus seiner Vergangenheit