Martin Ohst legt bei seinem Gang durch die Kirchengeschichte den Akzent auf einen oft eher vernachlässigten Bereich. Statt eines dogmengeschichtlichen Rekurses auf die prägenden Begriffe und Lehrsysteme der christlichen Bekenntnisbildung stellt er »frömmigkeits-, theologie- und kirchengeschichtlich wirksame Bezugnahmen auf den Menschen Jesus« in den Mittelpunkt. Grundlegend ist die bereits in alten Texten (1Petr 2; 1Clem 16) begegnende, Jes 53 aufnehmende Darstellung Jesu als desjenigen, der in seiner Demut und Leidensbereitschaft den Glaubenden ethisches Vorbild geworden ist. Diese Orientierung am Christus humilis ist dann in verschiedener Weise entfaltet worden. Tertullian demonstriert |6|anhand der im Verhalten Jesu sichtbar gewordenen Geduld Gottes die Überlegenheit des christlichen Glaubens über die pagane Philosophie. In vergleichbarer Weise kann Cyprian im Kontext der Martyriumsparänese auf das Vorbild Christi verweisen und zur Leidensnachfolge aufrufen. Unter anderen politischen Bedingungen wird der irdische Jesus dann zur Orientierung für Mönche und Kleriker (Hieronymus) bzw. zum »Muster menschlichen Sichdeutens und Sichverhaltens überhaupt« (Augustin). Bei Augustin steht dies im Horizont einer Gnadentheologie, der zufolge bestimmte Menschen zur Einheit mit dem Sohn Gottes erwählt wurden. Die Orientierung am Vorbild des Verhaltens Jesu verfolgt Ohst von hier aus weiter durch die Armuts- und Frömmigkeitsbewegungen des Mittelalters. Besonders eindrücklich wird sie anhand der franziskanischen Bußpredigt aufgezeigt, die sich in umfassender Weise am Weg des irdischen Jesus orientierte und daraus den Ruf zur Umkehr des Sünders herleitete. Bei den Reformatoren lässt sich eine vergleichbare Sicht auf den Menschen Jesus aufzeigen, wie Ohst anhand von Martin Luthers Auslegung von Hebr 2,10 bzw. 5,9 zeigt: Christus »zieht und reißt … alle von den Dingen weg, welchen sie in der Welt anhängen … das ist ihr … Ihm-gleich-Werden«. In der Neuzeit ist es dann vor allem Friedrich Schleiermacher, der auf die Bedeutung der geschichtlichen Person Jesu Christi rekurriert und sie ins Zentrum der christlichen Religion rückt. Für das 20. Jahrhundert verweist Ohst abschließend auf das Gegenüber der Darstellungen Rudolf Bultmanns und Emanuel Hirschs. Hatte ersterer das urchristliche Kerygma in den Mittelpunkt gestellt, so betonte letzterer die Notwendigkeit einer Aneignung des Lebens Jesu in christlicher Theologie und christlichem Glauben.
Der eindrückliche Durchgang zeigt, dass neben der begrifflich-abstrakten Reflexion über die Bedeutung Jesu die Orientierung an seinem irdischen Weg in der Theologie- und Frömmigkeitsgeschichte stets eine wichtige Rolle gespielt hat. Es wäre lohnend, dies im Horizont der neuzeitlichen Leben-Jesu-Forschung bzw. der Frage nach dem »historischen Jesus« weiterzudenken. Die gegenwärtige Jesusforschung (die sog. »Third Quest of the Historical Jesus«) gibt dazu vielfältige Anstöße. Sie fragt danach, was wir vom Wirken und Geschick Jesu mit den Mitteln historischer Kritik feststellen |7|können und möchte auf diese Weise der Reduktion der Christologie auf ein abstrakt-unanschauliches »Kerygma« durch historische Untersuchungen zu Leben, Leiden und Tod des galiläischen Wanderpredigers Jesus von Nazareth begegnen. Darin kann eine Fortsetzung der von Ohst aufgezeigten Linie unter den Bedingungen der historisch-kritischen Geschichtswissenschaft gesehen werden. Es wäre ein hermeneutisch fruchtbares Unterfangen, die aktuelle Jesusforschung aus dieser Perspektive in den Blick zu nehmen.
Der Beitrag von Notger Slenczka erschließt aus systematisch-theologischer Perspektive das Bekenntnis zu Jesus Christus als »Reflex des frommen Selbstbewusstseins«. Die an Friedrich Schleiermacher angelehnte Formulierung wird zunächst anhand des Philipperhymnus (Phil 2,5b–11) dahingehend entfaltet, dass an der Geschichte Jesu Christi – seiner Erniedrigung von der gottgleichen Gestalt bis zum Tod am Kreuz und der anschließenden Erhöhung und Verleihung des Kyrios-Namens – das Gottsein Gottes selbst in spezifischer Weise erkennbar wird: Wird der Weg Jesu Christi aus einer solchen Perspektive betrachtet, bedeutet das zum einen, dass Jesus Christus göttliche Würde zuerkannt, zum anderen, dass der Gott Israels als der Vater Jesu Christi bekannt wird. Die sich auf dieser Grundlage zu Gott und Jesus Christus Bekennenden sind damit selbst hineingenommen in das durch das Handeln Gottes an und durch Jesus Christus qualifizierte Heil. Die sich daraus ergebende Problematik der Verhältnisbestimmung von Gott und Jesus Christus führte in der altkirchlichen Bekenntnisbildung zu den Auseinandersetzungen vornehmlich mit der Position des Arius, die schließlich 325 im Konzil von Nicäa mit der Wendung »eines Wesens mit dem Vater« einer sich in der kirchlichen Tradition bewährenden Lösung zugeführt wurden. Dass diese Formel jedoch unterschiedlich ausgelegt werden konnte und entsprechend umstritten blieb, zeigt Slenczka anhand der Dispute um das christologische und trinitarische Bekenntnis bis zum Konzil von Chalcedon 451, das die Unterscheidung zwischen der einen Person bzw. Hypostase und den beiden Naturen Jesu Christi formulierte. Diese Lösung wird in der Reformationszeit im Kontext der Abendmahlsstreitigkeiten zum Problem, weil nunmehr die Frage auftaucht, wie der Leib Christi zugleich im Mahl realpräsent und zur Rechten |8|Gottes sitzen könne – ein Einwand, dem Luther mit der Lehre von der wechselseitigen Mitteilung der Eigenschaften (communicatio idiomatum) begegnete. Die beiden Naturen Jesu Christi dürfen demnach nicht als beziehungslos nebeneinander stehend betrachtet werden. Vielmehr ist bei den Ereignissen, die die eine Natur betreffen, auch die jeweils andere beteiligt (bei Kreuzigung und Tod auch die göttliche, beim Sitzen zur Rechten Gottes auch die menschliche).
Handelt es sich hierbei um eine stärker an systematisch-gegenständlichen Beschreibungen orientierte Soteriologie, so wird dem in der neuzeitlichen Christologie seit Schleiermacher eine stärker an der Erfahrung orientierte Sicht gegenübergestellt. Dazu wird auf das Leben Jesu – zunächst im Sinne des biblischen Christusbildes, noch nicht als »historischer Jesus« – rekurriert, woraus sich Impulse zur Stärkung des »frommen Selbstbewusstseins« ergeben sollen. Diese soteriologische Konzeption besitzt ihre Pointe – und ihre, wie Slenczka betont, trotz gelegentlicher Einsprüche im 20. Jahrhundert bleibende Bedeutung – darin, dass das »Werk« Christi hier nicht als etwas betrachtet wird, auf das der Glaube nachträglich Bezug nimmt, sondern dass durch dieses ein Gottesverhältnis strukturiert wird, in das der Mensch eintreten und dadurch sein Heil gewinnen kann, indem er zu seiner ursprünglichen Bestimmung findet.
Vor dem so entfalteten Zusammenhang von Christologie und Soteriologie wirft Slenczka sodann einen Blick auf die Diskussion um den »historischen Jesus«. Deren Beitrag sieht er vor allem darin, den existentiellen Bezug gegenständlicher christologischer Aussagen durch den Rekurs auf die Geschichte Jesu zu Bewusstsein zu bringen. Im Anschluss an Schweitzer und Bultmann stellt Slenczka heraus, dass es keinen von dem je eigenen Standort unabhängigen »objektiven« Zugang zu den historischen Ursprüngen gebe, zudem bereits in den Evangelien Ereignis und Deutung untrennbar miteinander verwoben seien. Die durch Jesus von Nazareth ausgelöste »soteriologische Erfahrung« schlage sich also bereits in den ältesten christlichen Texten nieder, was zum Beginn des Beitrags zurückführt – nämlich zu der Einsicht, dass die christologische Bekenntnisbildung insgesamt als hermeneutischer Vorgang aufzufassen|9| sei, in dem sich die Bedeutung des Bekenntnisses zu Jesus Christus existentiell – eben als »Reflex des frommen Selbstbewusstseins« – erschließt, dem sich darin der Zugang zu Gott und seinem Heil eröffnet.
Helmut Schwier wendet sich in seinem praktisch-theologischen Beitrag der Frage zu, wie das Bekenntnis zu Jesus Christus im praktischen Vollzug des Glaubens Gestalt gewinnen kann. Er befasst sich dazu zunächst mit dem Gottesdienst als »Feier und Kommunikation