In die Hütte mit all diesen lästigen Schmarotzern! Zurück mit ihnen in ihr seidengefütterte(s) (Körbchen)! Ich singe den kotbespritzten Hund, den armen Hund, den Hund ohne Behausung, den streunenden Hund, den Seiltänzerhund, den Hund, dessen Instinkt, wie der des Armen, des Zigeuners und des Komödianten wunderbar geschärft ist durch die Not, die so gute Mutter, die wahre Schutzgöttin der gescheiten Leute! Ich singe die armseligen Hunde, die einsam in den gewundenen Schluchten der unermeßlichen Städte umherirren, und sie, die dem verlassenen Menschen mit geistvoll blinzelnden Augen sagten: „Nimm mich zu dir, und aus dem Elend von uns beiden machen wir dann vielleicht so etwas wie Glück!“53
3.1.2 Der Weg der deutschen Literatur in die Großstadt
Die deutsche Literatur hat sich zunächst mit solchen Vorstellungen schwergetan, sehr viel schwerer jedenfalls als die französische. Diese war bereits durch den Roman an das Thema Großstadt gewöhnt, hatte im Medium des Großstadtromans bereits einen Sinn und eine Sprache für das Spezifische des Großstadtlebens entwickelt und sich ein Bild von den besonderen Möglichkeiten gemacht, die für die Literatur in ihm lagen. Das war vor allem das Verdienst von Honoré (de) Balzac (1799–1850), der seit den dreißiger Jahren eine große Zahl von Romanen vorgelegt hatte, in denen er das Leben in der großen Stadt Paris geschildert hatte, und der damit ein breites Publikum auf das Großstadtleben eingestimmt hatte.
Im deutschen Sprachraum sucht man lange Zeit vergebens nach einem solchen Großstadtroman.54 Es gab hier eben noch keine Metropole vom Format eines Paris; es fehlten auf Seiten der Autoren die Erfahrungen und auf Seiten des Publikums das Interesse, die einen deutschen Großstadtroman hätten entstehen lassen können. Zwar wurden immer einmal wieder Vorstöße in Richtung auf einen Gesellschaftsroman gewagt, der es an Vielschichtigkeit und Vielstimmigkeit mit dem Roman Balzacs aufnehmen könnte – hierher gehört etwa der „Roman des Nebeneinander“ von Karl Gutzkow (1811–1878) – doch lassen gerade sie die Lebensluft der modernen Großstadt besonders schmerzlich vermissen, zeigen auch sie immer nur wieder die deutsche Provinz.
Statt dessen wurde die deutsche Literatur seit den vierziger Jahren mit Dorfgeschichten55 überschwemmt; während die Franzosen und auch die Engländer im Großstadtroman die moderne großstädtische Lebenswelt erkundeten, versenkten sich die Deutschen in das Leben auf dem Lande. Sieht man sich diese Dorfgeschichten näher an, kann man freilich unschwer erkennen, daß auch sie etwas mit dem Aufkommen der modernen Großstadt zu tun haben. Es sind Großstadtromane ex negativo, Großstadtvermeidungsromane, denn was immer in ihnen an ländlichen Szenen entworfen wird, gewinnt seine Bedeutung nur im Bezug zu der großstädtischen Lebensweise, die inzwischen ja auch über den Deutschen heraufzieht, als deren Gegenbild und kritischer Kommentar.
So hat es bis in die späten achtziger Jahre gedauert, bis auch deutsche Großstadtromane entstanden. Hier ist etwa an den dreibändigen Roman „Was die Isar rauscht“ (1887–1890) des Naturalisten Michael Georg Conrad zu denken, einen München-Roman in der Nachfolge von Zola, der seinerseits an die Paris-Romane von Balzac angeknüpft hatte, oder an die Berlin-Romane des Realisten Theodor Fontane, der sich im Alter noch zu einem halben Naturalisten entwickelte, an Romane wie „Irrungen, Wirrungen“ (1888), „Stine“ (1890) und „Frau Jenny Treibel“ (1892). In ihnen wird man freilich noch immer vergeblich suchen, was für Baudelaire die entscheidende Quelle einer modernen Großstadtdichtung ist: das Aufgehen in der Menge als ein Erleben, das zugleich der Ort einer „universellen Kommunion“ und einer existentiellen Selbstbegegnung, einer rauschhaften „Verbundenheit mit dem Allgemeinen“ und eines Innewerdens dessen wäre, „daß ich bin und was ich bin“.
Am längsten hat sich im deutschen Sprachraum die Lyrik dem Großstadtleben verweigert, also eben die Gattung, die für Baudelaire das bevorzugte Medium der Großstadtdichtung war. Das Modell des Naturgedichts hatte eine solche prägende Kraft, daß man sich eine lyrische Selbstaussprache in großstädtischem Ambiente zunächst kaum vorstellen konnte. Das gilt auch für die deutschen Symbolisten, und dies obwohl sie als bekennende Moderne das Leben von Großstadtmenschen führten und obwohl sie ihre Vorbilder vor allem bei den französischen Symbolisten fanden. So viel sie aber auch sonst bei Baudelaire und dessen Schule gelernt hatten – seine Vorstellungen von Großstadtleben und Großstadtdichtung übernahmen sie nicht. Statt dessen blieben sie weithin bei dem Bild, das die Romantiker von der großen Stadt gezeichnet hatten – kein Wunder, wenn seinerzeit der Begriff der Neuromantik die Runde machte.
So erinnert etwa die folgende Passage aus dem lyrischen Einakter „Der Tod des Tizian“ (1902) von Hugo von Hofmannsthal bis in einzelne Formulierungen hinein an das Bild der „bösen Stadt“, das wir bei Eichendorff kennenlernt haben. Wiederum soll es der Blick von oben erlauben, das Wesen der Großstadt zu erfassen.
Siehst du die Stadt, wie jetzt sie drunten ruht?
Gehüllt in Duft und goldne Abendglut
Und rosig helles Gelb und helles Grau,
Zu ihren Füßen schwarzer Schatten Blau,
In Schönheit lockend, feuchtverklärter Reinheit?
Allein in diesem Duft, dem ahnungsvollen,
Da wohnt die Häßlichkeit und die Gemeinheit,
Und bei den Tieren wohnen dort die Tollen;
Und was die Ferne weise dir verhüllt,
Ist ekelhaft und trüb und schal erfüllt
Von Wesen, die die Schönheit nicht erkennen (…). (HGW 1, 253)
In die gleiche Richtung zielt eine Reihe von Gedichten des lyrischen Zyklus „Das Stundenbuch“ (1905) von Rainer Maria Rilke.56 In ihnen sucht der Autor einen ersten längeren Aufenthalt in Paris zu verarbeiten, der sich für ihn zu einer zutiefst verstörenden Erfahrung gestaltet und mit der Flucht nach Italien geendet hatte. Da heißt es etwa:
Die großen Städte sind nicht wahr; sie täuschen
den Tag, die Nacht, die Tiere und das Kind;
ihr Schweigen lügt, sie lügen mit Geräuschen
und mit den Dingen, welche willig sind. (DG 80)
Oder:
Denn, Herr, die großen Städte sind
verlorene und aufgelöste;
wie Flucht vor Flammen ist die größte, –
und ist kein Trost, daß er sie tröste,
und ihre kleine Zeit verrinnt.
Da leben Menschen, leben schlecht und schwer,
in tiefen Zimmern, bange von Gebärde,
geängsteter denn eine Erstlingsherde;
und draußen wacht und atmet deine Erde,
sie aber sind und wissen es nicht mehr. (DG 79)
In einer modernen Großstadt kann man nicht wirklich leben, nicht wirklich am „Atmen der Erde“ teilhaben. Indem sie die Nacht zum Tage macht, zerstört sie das Zeitmaß des Lebens. Sie läßt das Tier nicht tiergemäß und das Kind nicht kindgemäß leben, läßt damit eben die beiden Wesen nicht sie selbst sein, in denen nach Rilkes Überzeugung das Leben in besonderem Maße zur Geltung kommt, die nichts als Leben sind. Sie nimmt den „Dingen“ die Würde, die sie als eigensinnig lebendiges Gegenüber des Menschen haben, macht sie zu „willigen“, „feilen“ Objekten allfälligen Gebrauchs und gedankenloser Vernutzung. Hier sperrt sie die Menschen in „tiefe Zimmer“ ein, dort jagt sie sie durch die Straßen, als sei das Inferno hinter ihnen her; sie bannt sie in einen Zustand zwischen Angst und Hetze, der sie nicht zu sich selbst kommen läßt. So wird sie zu einem Raum, in