Dieser Ausrichtung des Titels entsprechend bietet der Text weder detaillierte Diskussionen theoretischer Ansätze noch einen vollständigen Überblick über alle Themen, Fragen und Probleme, die in der Wissenschaftsethik erörtert werden. Vielmehr werden nur einige ausgewählte Themen angesprochen, um dem Leser einen Einstieg in die Thematik zu bieten, von der aus er sich selbständig weiter vorarbeiten kann. Dabei soll es nicht um vertiefte philosophische und philosophiehistorische Erörterungen der angesprochenen Themen oder um detaillierte argumentative Begründungen möglicher Positionen gehen. Auch passgenaue Problemlösungen, beispielhafte Fallanalysen und direkt in der Praxis umsetzbare Richtlinien werden nicht angeboten, da jeder konkrete Fall einzigartig und die Wissenschaft ein veränderliches Phänomen ist und es dementsprechend keine passgenauen Lösungen und allgemeingültigen Richtlinien geben kann. Stattdessen soll das Buch den Leser zum eigenen Nachdenken über wissenschaftsethische Fragen und Probleme anregen und stellt entsprechendes Basiswissen sowie Anreize bereit. Wenn das Buch die Aufmerksamkeit des Lesers auf Probleme lenkt, dessen Existenz er bislang übersehen hat und für ihn einen Anlass darstellt, sich über diese Probleme einige Gedanken mehr zu machen, hat es sein Ziel erreicht.
Im Rahmen der akademischen Lehre soll das vorliegende Buch als Grundlage eines einführenden Kurses in die Wissenschaftsethik dienen können. Die hier vorgesehene Verwendung wäre die eines Rückgrats oder eines Skeletts, das für eine vertiefte Arbeit zu einzelnen Themen mit Artikeln aus der aktuellen wissenschaftsethischen Forschungsliteratur sowie mit Materialien zu Fallstudien aus der Praxis ergänzt werden kann.
Hannover, im Juli 2013 Thomas Reydon
Anmerkung zur Schreibweise der weiblichen und männlichen Form:
Ausschließlich aufgrund der besseren Lesbarkeit wird in diesem Werk auf die jeweilige Doppelnennung oder Anpassung der Schreibweise bestimmter Bezeichnungen verzichtet. So stehen u. a. Wissenschaftler, Forscher, Ärzte, Studierende, Autoren, Philosophen, Ethiker etc. selbstverständlich für alle Frauen und Männer, die diese Berufe ausüben oder vertreten.
1 Die Bedeutung der Wissenschaftsethik
Die Wissenschaftsethik ist ein Teilbereich der Wissenschaftsphilosophie: Als praktische Wissenschaftsphilosophie macht sie zusammen mit der theoretischen Wissenschaftsphilosophie, die manchmal auch als Wissenschaftstheorie bezeichnet wird, das Fach Wissenschaftsphilosophie aus (Reydon und Hoyningen-Huene, 2011, S. 131–132). Sie ist ein Teilbereich der akademischen Philosophie, und ihre Ziele, ihre Arbeitsweise und ihre Ergebnisse müssen dementsprechend verstanden werden. Als geisteswissenschaftliches Fach verfolgt die Wissenschaftsethik ihre eigenen Fragestellungen und Ziele und sollte nicht primär als Hilfswissenschaft bzw. Dienstleistungsbereich für die übrigen Wissenschaften verstanden werden, obwohl sie durchaus für die anderen Wissenschaften relevante und brauchbare Ergebnisse erzielen kann. Die Frage nach der Bedeutung der Wissenschaftsethik – die Frage danach, was den Themen- und Problembereich ausmacht, mit dem sich die Wissenschaftsethik befasst; danach, was die Wissenschaftsethik leisten kann bzw. leisten soll; und danach, für wen die Wissenschaftsethik überhaupt etwas leisten soll und kann – muss demnach im Kontext der allgemeinen Frage erörtert werden, was die Geisteswissenschaften überhaupt leisten können und sollen. Nun ist dies eine Frage, die weder pauschal für die Geisteswissenschaften noch für den spezifischeren Bereich der Philosophie befriedigend beantwortet werden kann, da sowohl die Geisteswissenschaften als auch die Philosophie extrem diverse Arbeitsbereiche sind und die unterschiedlichsten Projekte umfassen.
So befasst sich die Philosophie u. a. mit der Gesellschaft und ihren Strukturen, der Politik, dem guten Leben, der Richtigkeit und Falschheit von Handlungen, der Natur des Menschen, der Natur des Bewusstseins und der Verbindung zwischen Geist und Körper, der Beschaffenheit der Welt, der Theorie des gültigen Schließens und Argumentierens, dem Wesen von Kunstwerken, der Verlässlichkeit unseres Wissens über die Welt und mit noch vielen anderen Themen – und eben auch mit dem Phänomen Wissenschaft. Außerdem stellen sich Philosophen zu diesen höchst unterschiedlichen Themen sehr unterschiedliche Fragen und haben sehr unterschiedliche Vorstellungen davon, was es genau für ein „Produkt“ ist, dass sie mit ihrer Arbeit hervorbringen. Die Diversität der Teilbereiche der Philosophie und ihrer Bezugsfelder, Themen, Probleme, Ansätze, Herangehensweisen usw. lässt sogar die Frage aufkommen, ob die gegenwärtige Philosophie als solche überhaupt als ein Fach gesehen werden kann.
Solche Überlegungen zum Wesen der Philosophie, zu ihrem Ziel und zur Natur der von ihr erzielten Ergebnisse sind Gegenstand der so genannten Metaphilosophie. Die Metaphilosophie, die selbst ein Teilgebiet der Philosophie ist, tritt gleichsam als Wissenschaftsphilosophie der Philosophie auf.1 Sie stellt Fragen, wie: Was sind Aufgabe und Ziel der Philosophie? Was ist ihr Nutzen? Gibt es eine etablierte philosophische Methode bzw. gibt es für die philosophische Forschung spezifische methodische Vorgehensweisen? Was für Wissen liefert uns die Philosophie? Liefert sie überhaupt Wissen oder sind ihre Ergebnisse einer anderen Natur? Eindeutige Antworten auf diese Fragen gibt es jedoch nicht: Sogar auf eine anscheinend sehr einfache Frage zu ihrem eigenen Beruf – Was ist Philosophie überhaupt? – geben professionelle Philosophen oft sehr unterschiedliche Antworten (siehe dazu Edmonds und Warburton, 2010, S. xiii-xxiv). Die vielleicht beste, interessanteste und auf jeden Fall meist zitierte Antwort auf diesen Fragenkomplex stammt von dem Philosophen Wilfrid Sellars, der in einem Aufsatz mit dem Titel „Philosophy and the scientific image of man“ schreibt: „Das Ziel der Philosophie, abstrakt formuliert, ist es, zu verstehen, wie Dinge (im breitmöglichsten Sinne des Begriffs) zusammenhängen (im breitmöglichsten Sinne des Begriffs)“ (Sellars, 1962, S. 37; eigene Übersetzung). Diese Aussage gibt durchaus eine gute Beschreibung des Projekts der Philosophie – und dennoch bleibt für Außenseiter völlig unklar, was Philosophen eigentlich machen.
Dieser kleine Exkurs zur Natur der Philosophie sollte verdeutlichen, dass sich Fragen nach der Zielsetzung der Wissenschaftsethik, nach den möglichen Ergebnissen der Arbeit von Wissenschaftsethikern, nach deren Nutzen, nach der Bedeutung der Wissenschaftsethik usw. nicht eindeutig beantworten lassen – genauso wenig, wie sie für die Philosophie überhaupt eindeutig zu beantworten sind. Als Teilbereich der Philosophie kann die Wissenschaftsethik unterschiedliche Projekte beinhalten, die für unterschiedliche Gruppen von unterschiedlicher Bedeutung sein können. Dennoch sollen in diesem Kapitel die Fragen erörtert werden, was die Wissenschaftsethik beinhaltet und was ihre verschiedenen „Kundengruppen“, darunter insbesondere Naturwissenschaftler, von ihr erwarten können und was nicht.
1.1 Was ist Wissenschaftsethik?
Wie der Philosoph Julian Nida-Rümelin bemerkt, „ist es nicht ausgeschlossen, dass für verschiedene Bereiche menschlicher Praxis unterschiedliche normative Kriterien angemessen sind, die sich [. . .] nicht auf ein einziges System moralischer Regeln und Prinzipien reduzieren lassen“ (Nida-Rümelin, 1996, S. 63). Dementsprechend würden für diese verschiedenen Bereiche der menschlichen Praxis unterschiedliche