Daniel Kahneman ist 1934 in Tel Aviv geboren und war als Hochschullehrer sowohl in Israel als auch in den USA tätig. Er widmete sich während seines gesamten wissenschaftlichen Wirkens in unterschiedlichsten Fragestellungen und Sachverhalten vor allem der Frage, wie das menschliche Denken – letztlich evolutionsbedingt – Entscheidungen trifft, die von rein mathematischen oder logischen Modellen abweichen. Das von ihm mitentwickelte und entscheidend propagierte Modell der „zwei Systeme“ ist für das Verständnis von menschlichen Denkgewohnheiten und Entscheidungstendenzen von epochaler Bedeutung. Kahneman gelang es, die wesentlichen Handlungseigenschaften der beiden Systeme so konkret zu fassen, dass sie zur Erklärung menschlicher Entscheidungen sogar mit mathematischen bzw. statistischen Funktionen beschrieben werden können. Damit ist er einer der Väter der sogenannten Verhaltensökonomik (vgl. Beck, Behavioral Economics, S. 25f.; Beispiel zur Beschreibung der sog. Endowment-Funktion S. 174).
Diese modellhafte Arbeitsstruktur unseres Denkens lässt sich wie folgt kurz beschreiben:
System 1 ist das unbewusst arbeitende, kognitive System, das laufend alle Eindrücke unserer Sinnesorgane „bemustert“, bewertet und vergleicht und in das vorhandene ungeheuer vielfältige Netzwerk unserer inneren neuronalen Verdrahtungen bei Bedarf integriert (vgl. Rappmund, Manipulation, S. 64, S. 69ff.). Daniel Kahneman (S. 33f.) weist System 1 die permanente „Generierung von Eindrücken, Intuitionen, Absichten und Gefühlen“ zu. Jeder von uns hat dieses Leben und Handeln in einem fast „automatischen“ Zustand erlebt: ob beim Autofahren, der Morgentoilette oder Situationen, in denen etwa im Beruf Entscheidungen und Handlungen wie von selbst erfolgen – ein Zustand, der von einigen Wissenschaftlern auch als „Flow“ beschrieben wird. Dieses Verhalten geht in der Regel auf die jahrzehntelangen Routinen zurück, die ein Mensch sich permanent aneignet, wieder aufruft, Schritt für Schritt erweitert – mit anderen Worten bewusst, aber noch viel häufiger unbewusst lernt.
Auch das Erlernen der Muttersprache ist eine der größten Leistungen des kindlichen Gehirns, die überwiegend unbewusst über beobachtendes Hören, spielerisches Üben hin zum Erwerb und der Anwendung erster Wörter bis zu ersten Sätzen erfolgt. (Eingehend zum Prozess des Sprachbegreifens auch Wehling, S. 20ff., Eagleman, S. 100ff.; zum allgemeinen Forschungsstand Viciano, „Der Baby-Code“, SZ vom 13.10.2017, S. 14.) Die dabei gemessenen internen Verarbeitungsgeschwindigkeiten sind ungeheuer schnell und laufen im Bereich von einigen 100 Millisekunden ab (vgl. Rappmund, Manipulation, S. 77f., Eagleman, S. 87ff.).
Mit anderen Worten: Auch der Prozess des Sprechens von der Wortfindung bis hin zur Satzbildung läuft überwiegend unbewusst ab. Die Sprachbildung im Gehirn folgt einem unbewussten Regelmuster, das bei einem Redner jahrzehntelang eingeübt ist. Infolge dieser jahrelangen Übung sind die Ergebnisse der Spracherzeugung zwar in der Regel durchaus verständlich. Man sollte sich aber davor hüten, nur noch „automatisch, unbewusst“ zu sprechen. Die unbewussten Fehlleistungen, die daraus resultieren, sind legendär. Seit Sigmund Freud sie in seinem berühmten Werk zur Psychopathologie des Alltagslebens analysiert hat, wissen wir zunehmend, welche Macht der unbewussten Gedanken selbst in einem unbedeutenden Versprecher zum Ausdruck kommen kann. Wehe also, Sie würden als Redner unkontrolliert unbewusst sprechen. Selbst der Volksmund kennt die Maxime: Unbewusstes Sprechen ist zu vermeiden – System 2 ist einzuschalten. Mit anderen Worten: Reden ist Silber – Schweigen (und Bedenken) ist Gold.
System 2 ist das bewusst arbeitende kognitive System, das letztlich für Konzentration und Aufmerksamkeit steht. Es ist notwendig, um sich bewusst auf die Gedankenführung und die Argumentation eines Redners zu konzentrieren und sie zu analysieren; das System ist aktiviert, wenn rhetorische Fragen gestellt werden und wir der Tendenz folgen, sie zu richtig zu beantworten. Das bewusste System 2 wird zum Beispiel bei uns als Zuhörern aktiviert, wenn uns etwas Unangenehmes oder Unnormales am Redner auffällt und wir uns plötzlich darauf konzentrieren, weil es uns tatsächlich in den Bann zieht.
Wer je den Sketch des Kabarettisten Loriot mit der Nudel in seinem Gesicht sah oder eine/-n Redner/-in vor sich hat, dessen Hosentüre geöffnet oder deren Make-up sichtbar verlaufen ist – der weiß, wie intensiv die Konzentration auf solche Details unsere Aufmerksamkeit fesselt und alles andere vergessen lässt. Dies gilt etwa auch für die beliebte Aufforderung: „Denken Sie jetzt nicht an einen weißen Elefanten!“ In diesem Moment kann der Redner weiter sprechen, was er will – Sie sind bzw. Ihr System 2 ist „gebannt“, der Rest wird von System 1 so erledigt, dass Sie sonst nichts mehr merken (hören, Umgebung beachten etc.): Sie denken an den weißen Elefanten!
Und natürlich leitet das bewusste System 2 den Redner, der bewusst Sätze und Argumente aktivieren muss, der das Auditorium im Blick hält, der Gesten gezielt einsetzt und die Stimmhöhe und das Tempo steuert. Vieles läuft dabei immer noch im Unterbewusstsein durch System 1 gesteuert ab: dies gilt etwa für die Stimmbildung, das Atmen, die Körperhaltung. Der Gesamtverlauf der Rede jedoch ist System 2 untergeordnet, das gezielt Schwerpunkte setzt, Konzentration verwendet und die „rhetorische Oberleitung und Überwachung“ bei sich hält (vgl. Kahneman, S. 34ff.). Dabei ist die psychologische Wissenschaft dem Prozess der Spracherzeugung zwar auf der Spur, aber noch lange nicht am Ergebnis angelangt (dann wäre der im Gehirn generierte Sprachprozess im Experiment nämlich jederzeit reproduzierbar – und davon sind wir wohl noch Jahrzehnte entfernt). Das Wunderwerk des menschlichen Gehirns mit seinen mehr als einhundert Billionen Nervenzellen (Neuronen), seinen synaptischen Verschaltungen, die von wenigen Punkten bis hin zur Aktivierung ganzer Hirnareale reichen, arbeitet im Wesentlichen autonom und außerhalb der bewussten Wahrnehmung. Diese Vorgänge lassen sich daher vorerst nur teilweise beschreiben, unsere Erkenntnisse dazu sind allerdings für die Rhetorik von enormer Bedeutung: Man stellt in unserem Gehirn das multiple Zusammenarbeiten eines enorm vielgliedrigen neuronalen Netzwerkes fest, das für die Vielzahl von phonologischen, prosodischen, syntaktischen und semantischen Informationen eines Redevorganges notwendig ist. Dies lässt weiter darauf schließen, dass intern sogenannte synaptische Musterprozesse und Musterverarbeitungen ablaufen, die viel mit intern abgelegten und gespeicherten Zuständen und Wahrnehmungen, aber auch Reflexen und Reaktionen zu tun haben, die ein Mensch über Jahre und Jahrzehnte hinweg erworben hat (vgl. Wartenburger, Sprache und Gehirn, S. 189ff.).
Es ist existenziell wichtig, dass auch der unbewusste Erwerb dieser „mustergestützten“ Denkprozesse für das Sprechen auf das neuronale Speichern zurückgeht und damit eines der wichtigsten Elemente von Lernen durch aktives Merken, wenn auch unbewusst, darstellt (vgl. Eagleman, S. 100f.). Mit anderen Worten: Was das Unterbewusstsein sich nicht merkt, das kann der Mensch gar nicht lernen! Oder drastisch für die Gegenwart gesagt: Wer nur Bilder auf dem IPad wischt, sie aber nicht aktiv oder sprachlich verarbeitet, wird keinen mustergestützten Merkprozess in seinen Neuronen verankert haben und auf dieses Detail des Denkens auch nicht so leicht oder gar nicht zugreifen können.
Bitte beachten Sie dabei, dass die Verwendung der Begriffe „System 1“ und „System 2“ ein Kunstgriff ist, also ein Modell, das der Veranschaulichung dessen dient, was im Gehirn mit unbewusst ablaufenden und den damit korrelierenden bewussten Prozessen vor sich geht. Es sind dies – das möchte ich betonen – Fiktionen, die ausnahmslos der besseren Verständlichkeit der psychologischen Prozesse dienen, indem sie sie anhand eines plausiblen Modells bildhaft darstellen (vgl. Kahneman, S. 103f.).
Das bewusst arbeitende System 2 und das unbewusst arbeitende System 1 stehen miteinander in einem sehr komplizierten Prozess der Zusammenarbeit. Wichtig ist die wissenschaftliche Erkenntnis, dass das bewusste System 2 zwar „Chef im Ring“ ist, etwa wenn es um komplizierte Denkkprozesse wie den abstrakten Aufbau einer Rede geht. Es lässt sich aber von System 1 in wesentlich größerem Umfang beeinflussen, als man gemeinhin glauben möchte: System 1 bietet permanent aus dem ungeheuren